Perspektive: Selbstorganisation – Gedanken zu anarchistischer Strategie & Organisation

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Wieder einmal ist eine Debatte über die richtige anarchistische Organisierung entbrannt, wieder einmal versuchen sich darin jene zu profilieren, die sich in einer Anführer*innenposition zu gefallen scheinen, wieder einmal ist bereits jetzt abzusehen, dass nach einer anfänglichen Phase der Begeisterung für all die schnieken neuen anarchistischen Organisationen sämtliche Bemühungen umsonst gewesen sein werden und außer einem weiteren verwesenden Organisationskadaver und einer Menge Frustration unter jenen, die diesem auf den Leim gegangen sind, nichts davon überigbleiben wird, wieder einmal pisst sich die Herrschaft und der Rest der Welt, so sie diese Debatte überhaupt mitbekommen, vor Lachen in die Hose. Denn es ist durchaus schrullig, wie manch eine*r der Leithammel dieser Tendenz immer wieder einen darüber auflabert, dass Anarchismus, der nicht die Arbeitermassen organisiert, nicht ernstzunehmen sei und dabei so gar nicht zu sehen scheint, dass er*sie diese These in einen leeren (wenn immerhin auch ohnehin bloß virtuellen) Raum schreit und ihm*ihr kein*e einzige*r Arbeiter*in aus dem Publikum zujubelt, sondern bloß der selbe Schlag an Wirrköpfen wie er*sie selbst – und auch die lassen sich an zwei Händen abzählen.

 

 

Dies gesagt, ist eine gewisse Sehnsucht, die so viele Anarchist*innen in diese Sackgasse zu treiben scheint, eine Sehnsucht danach, mit dem eigenen Handeln etwas zu bewirken, eine Sehnsucht danach darüber hinauszugehen bloß hohle Phrasen zu dreschen, ja letztlich keine geringere als jene ur-anarchistische nach einem Leben in Freiheit, natürlich verständlich. Aber auf den steinigen Wegen der Anarchie gibt es nun einmal keine Abkürzungen. Und ganz gewiss werden diejenigen, die sich lieber in ihren behaglichen Wohnzimmer der ihnen vertrauten Welt unter einer Decke verstecken und darauf warten, dass sich draußen vor der Tür die Massen erheben, niemals den Geschmack der Freiheit schmecken. Was also tun? Die folgenden Gedanken werden diese Frage für jene, die auf der Suche nach einer Gebrauchsanweisung für die Anarchie sind, gewiss nur unzureichend beantworten. Im Gegenteil. Die folgenden Worte werden ihnen jede Gebrauchsanweisung und sei sie auch noch so hübsch geschrieben, aus den Händen reißen und vor ihren Augen verbrennen. Denn erst wenn wir diesen Schritt hinter uns gebracht haben, können wir losziehen und jenes Abenteuer suchen, das wir Anarchie zu nennen wagen.

 

 

Es war einmal ein Arbeiterlein…

 

Wollt ihr ein Märchen hören? Stellt euch vor auf der ganzen weiten Welt gibt es 99% der Menschen, die eigentlich allesamt das gleiche Problem haben und folglich auch die gleichen Interessen: Sie sind Arbeiter und als solche müssen sie für jemand anderen arbeiten, der sie dabei ganz furchtbar ausnutzt und sich am Resultat ihrer Arbeit bereichert. Und diese anderen, für die diese Menschen arbeiten, dieses 1%, es ist die furchbar mächtige Klasse an Kapitalisten, die all die Arbeiterlein auf der ganzen Welt mit Gewalt dazu zwingt, sich von ihnen ausbeuten zu lassen. Aber eines Tages werden die vielen Arbeiterlein zusammenkommen, sie werden sich dessen bewusst werden, dass sie eigentlich dieses eine Prozent ihrer Ausbeuter gar nicht brauchen. Sie werden diese zum Teufel jagen und dann wird sich Zufriedenheit und Glück unter ihnen ausbreiten. Sie werden frei sein. Und natürlich werden sie weiterhin jeden Tag in den Fabriken arbeiten, glücklich bis an ihr Lebensende.

 

 

Das ist, man wird es mir, wo ich das so erzählt habe, kaum glauben, die Gesellschaftsanalyse, die den meisten anarchistischen (Organisations-)Strategien zugrunde liegt. Aber was lässt sich mit einer Analyse anfangen, die nicht bloß die heutige Gesellschaft nicht zu beschreiben vermag, sondern die schon immer vollkommen an der Realität vorbeiging und das nicht nur deshalb, weil sie einfach so tut, als würde es gut die Hälfte aller Menschen in dieser Gesellschaft gar nicht geben ((Haus-)frauen, Kinder, Arbeitslose, Häftlinge, Kriminelle, Revolutionär*innen, Hexen, Landstreicher, anderweitig außerhalb der Gesellschaft stehende, usw., usw.), sondern auch weil sie die verbleibende übrige Hälfte (sofern dies überhaupt die Hälfte ist) der Bevölkerung mit der sie sich beschäftigt, als etwas beschreibt, das so einfach niemals existierte. Ob Millenarismus, Maschinenstürmer, Bauernrevolten, usw., die industrielle Gesellschaft, in der wir heute leben, entstand nicht ohne erbitterten Widerstand und die Erschaffung des Arbeiters, jenes Subjekts, um das sich so viele der angeblich revolutionären Theorien drehen, war ein entscheidender Schritt hin zu ihrem Erfolg. Und so sind es damals wie heute auch die Arbeiter*innen dieser Welt, die die industrielle Gesellschaft durch ihr fortgesetztes Sklav*innendasein reproduzieren und oft sogar verteidigen und es steht außer Frage, dass eine Revolution, die diese Gesellschaft wirklich beseitigen will, nicht umhin kommt, den Arbeiter als solchen, also als eine soziale Rolle, eine Identität, ein Subjekt, ebenfalls zu beseitigen.

 

 

 

Aber Moment mal, warum sollten wir die industrielle Gesellschaft abschaffen wollen? Als Anarchist*innen wollen wir doch schlicht keine Bosse und die Entscheidungen selbst treffen. Nun, ich denke wenn man über sein eigenes Leben selbst verfügen will, dann impliziert das auch, dass jede Art von Gesellschaft, die diesem Leben äußere Zwänge auferlegt und es an der freien Entwicklung hindert, ebenfalls bekämpft werden muss. Die industrielle Gesellschaft tut das zweifelslos. Und schlimmer noch: Sie verändert dabei ihre gesamte Umwelt, verleibt sich immer größere Territorien dieser Welt ein und stellt so alle Menschen auf diesem Planeten vor die Wahl, sich entweder an ihr zu beteiligen oder aber von ihr vernichtet zu werden.

 

 

Ich werde diese Analyse hier nicht weiter ausführen, weil uns das allzu sehr vom Thema ablenken würde, ich habe am Ende dieses Textes jedoch ein paar Lektüreempfehlungen versammelt, die sich ausführlicher mit diesen Fragen auseinandersetzen.

 

 

Kurz gesagt jedenfalls: Der Arbeiter ist weder “logischerweise” revolutionäres Subjekt, in das wir unsere Hoffnungen auf Befreiung setzen sollten, noch sind die von ihm als “Arbeiter” vertretenen Interessen in Einklang mit anarchistischen Ideen zu bringen. Anstatt also einer Identität nachzujagen, die weder logischerweise unsere anarchistischen Ideen widerspiegelt, noch jemals ein Interesse entwickeln wird, anarchistische Ideen innerhalb dieser Identität zu verfolgen, weil sie im Widerspruch zu den Interessen (der Industrialismus und die Existenz der Fabriken ist schließlich notwendig dafür, dass der Arbeiter als Identität fortexistiert) dieser stehen und die heute zudem mindestens von einer Vielzahl an Identitäten überlagert, wenn nicht gar endgültig durch diese ersetzt wurde und folglich die Verhältnisse kaum mehr zu fassen vermag, erscheint es doch erfolgsversprechender, endlich die ewig falsche Analyse über Bord zu werfen und Platz für etwas erfolgsversprechenderes zu schaffen.

 

 

Ein neues revolutionäres Subjekt?

 

Aber bevor wir uns nun umzusehen beginnen, auf der Suche nach einer neuen Identität, einem neuen revolutionären Subjekt, auf dessen zukünftige Erhebung wir all unsere Hoffnungen auf eine freie Welt setzen können, lasst uns auch das noch einmal einer kritischen Reflexion unterziehen. Gibt es so etwas wie ein revolutionäres Subjekt überhaupt? Oder ist das vielmehr die Sehnsucht jener, die nachts von feuchten Träume von im Gleichschritt marschierenden Massen heimgesucht werden. Feuchte Träume, die für andere Anarchist*innen vielmehr Abträume wären. Vielleicht, ein großes Vielleicht, aber vielleicht gab es ja einmal soetwas wie ein “revolutionäres Subjekt” in einer längst vergangenen Zeit. Vielleicht gibt es auch dort, wo der Industrialismus noch heute in Gebiete vorzudringen versucht, in denen er bisher nicht oder immerhin kaum Fuß zu fassen vermochte, soetwas wie ein “revolutionäres Subjekt”, auch wenn ich es verabscheue, die Menschen in derlei Kategorien zu betrachten. Vielleicht lassen sich ja sogar die heute auch hierzulande wachsenden Massen an Ausgeschlossenen, als eine gewisse Form von “revolutionärem Subjekt” betrachten, insofern, als dass sie diejenigen sind, die bestimmten Projekten der Herrschenden ebenso wie ihrer allgemeinen Ausbeutung durch die Herrschenden natürlicherweise entgegenstehen. Und doch funktioniert diese Betrachtung auf eine ganz andere Art und Weise als auf die herkömmlich politische Art und Weise, die dieser Masse an Menschen einen einheitlichen politischen Geist attestiert, was nichts anderes bleibt als der Versuch, ihnen die eigenen politischen Vorstellungen überzustülpen (in der Regel von jenen bourgeoisen Anführer*innen ausgehend, die es verstehen, Kapital aus revolutionärem Unmut zu schlagen). Nein, wenn wir von den Ausgeschlossenen sprechen, als der Gesamtheit all jener, denen der Zugang zu den Möglichkeiten von der herrschenden industriellen Ordnung zu profitieren verwehrt bleibt und die demnach ein Eigeninteresse daran haben, gegen diese Ordnung zu rebellieren, dann machen wir uns nicht irgendwelche Illusionen darüber, dass diese Menschen natürliche Anarchist*innen wären, auch nicht darüber, dass ihre Rebellion, ihre Revolte automatisch zu irgendeiner Art von anarchistischer Gesellschaft führen würde, sondern wir erkennen bloß die Tatsache, dass heute so gut wie sämtliche aufständischen Bewegungen von den Reihen dieser Ausgeschlossenen ausgehen und ihrer Natur nach apolitisch sind. Sie sind nichts weiter als die sich in einem Augenblick manifestierende, pure Feindschaft gegen ein System, das diesen Menschen ein würdiges Leben verweigert, ebenso wie gegen dessen Repräsentant*innen, Symbole, Beschützer*innen und Lakeien. Wir haben nicht die Absicht, zu bloß einer*m weiteren Demagogen werden zu wollen, der*die glaubt, sich dieses unbändigen Zorns bedienen, d.h. politisches Kapital daraus zu schlagen, zu können, aber wir haben all jenen Menschen, die sich in purer Feindschaft all dem gegenüber erheben, was sie unterdrückt hält, ein paar Vorschläge anzubieten, wie sie diesen, ihren Angriff selbst organisieren können, ebenso wie wir im Besitz gewisser Theorien und Erfahrungen darüber sind, wo und auf welche Weise dieser Angriff die Herrschaft aus ihren Angeln zu heben vermag oder auch umgekehrt, wie sich die Herrschaft eines solchen feindseligen Aufbegehrens wieder annähert und dieses in unschädliche Bahnen zu lenken vermag.

 

 

Und wenn wir uns also mit diesen Vorschlägen anderen Ausgeschlossenen nähern, dann beabsichtigen wir damit nicht, diese zu Anarchist*innen zu bekehren, bilden uns nicht ein, dass wir diesen Leuten zu sagen bräuchten, was ihr(e) Problem(e) sind und wer sie unterdrückt, auch wenn wir selbstverständlich immer auch auf der Suche nach Affinitäten sind, also auf der Suche nach einer Spannung, die von einer gemeinsamen Analyse ebenso wie gemeinsamen Leidenschaften genährt wird und die sich beginnt dort auszubreiten, wo wir unsere Beziehungen zueinander auf dieser Basis vertiefen, sondern wir erhoffen uns davon, dass wir uns gemeinsam mit anderen Ausgeschlossenen selbst organisieren, dass wir uns gemeinsam direkter Mittel im Kampf gegen unsere gemeinsamen Feinde bedienen und dass wir uns in unserem gemeinsamen Kampf gegenseitig anspornen und unterstützen, nichts anderes als dass dieser Kampf von der Herrschaft nicht gegen uns gewendet oder ihr zunutze gemacht werden kann, dass er also wahrhaft das Potenzial in sich trägt, der Herrschaft gefährlich zu werden. Und das ist keine quantitative Frage, sondern vielmehr eine qualitative.

 

 

Der Unterschied zu der Vorstellung eines “revolutionären Subjekts” ist eklatant: Es geht nicht darum, die Massen hinter irgendeinem politischen Ziel zu vereinen, auch nicht hinter dem des “Anarchismus”, sondern vielmehr verbünden wir uns als Anarchist*innen, die wir uns selbst zu organisieren in der Lage sind – darüber werden wir noch sprechen –, mit anderen Ausgeschlossenen, mit denen wir das Ziel teilen, die Herrschaft auf unmittelbare Weise und mit direkten Mitteln anzugreifen. Und was wir diesen Menschen vorzuschlagen haben ist nichts weiter als die Selbstorganisation zum Zwecke des unmittelbaren und unvermittelten Angriffs auf das, was sie unterdrückt.

 

 

Eine anarchistische Organisation?

 

Nun habe ich bereits darüber gesprochen, wie meiner Meinung nach der einzig aufrichtige Weg für Anarchist*innen aussieht, sich mit anderen, mit Nicht-Anarchist*innen zusammen zu tun und gemeinsame Kämpfe zu führen. Der einzige Weg bei dem wir nicht einerseits die Menschen um uns herum, die keine Anarchist*innen sind, herabsetzen als zu bildende Masse oder auch instrumentalisieren in dem Sinne, als dass wir uns ihrer Kämpfe bemächtigen und diese vereinnahmen würden, wie es die verschiedenen Politiker jedweder Coleur versuchen. Und bei dem wir zugleich nicht Gefahr laufen, unsere anarchistischen Absichten, unsere Ideen, einer gewissen “Massentauglichkeit” unterzuordnen. Denn was haben wir davon, wenn wir unseren unbändigen Drang nach Freiheit darauf reduzieren, etwa ein bezahlbares Leben zu fordern? Wir werden zu Reformern und so werden aus unseren Reihen bald die nächsten Politiker*innen entstammen, die die Massen mit billigen Versprechen und Zugeständnissen abspeisen werden.

 

 

Aber die Art und Weise, wie wir uns anderen Ausgeschlossenen annähern können und wollen, sie klärt nicht die Frage danach, wie wir uns untereinander selbst organisieren können und wollen. Und müssen wir uns nicht zunächst noch die Frage stellen, zu welchem Zweck wir uns organisieren wollen?

 

 

Also zu welchem Zweck darf es denn sein? Wollen wir Listen anlegen, um die vielen Namen von Anarchist*innen aufzulisten? Wollen wir Mitgliedsbeiträge einsammeln um damit ein paar Propagandamaterialien, ein paar Kader und im besten Fall vielleicht ein paar Waffen zu kaufen und zu unterhalten? Wollen wir uns gegenseitig zeigen, wie viele (oh je, man würde schwer enttäuscht werden) wir doch sind? Wollen wir eine missionarische Organisation schaffen, die beständig wächst? Ich denke all diese Fragen führen offensichtlich nirgendwo hin und schon gar nicht zur Revolte, Revolution und Anarchie. Und doch scheinen sie bei vielen der kursierenden Organisationsvorschläge im Vordergrund zu stehen. Aber was wären denn bessere Ziele einer Organisation? Vielleicht eine gemeinsame Analyse der Verhältnisse in denen man sich bewegt zu entwickeln und davon ausgehend eine gemeinsame Strategie, die Herrschaft anzugreifen? Auf jeden Fall ist das ein besseres Ziel einer Organisation, aber wir müssen aufpassen, dass dies nicht bloß ein Vorwand bleibt, um letztlich doch vielmehr eines oder mehrere der obigen Ziele zu verfolgen.

 

 

Und natürlich, das ist ja soweit offensichtlich, muss eine Organisation von Anarchist*innen vereinbar sein mit anarchistischen Ideen. Das ist banal? Nun, scheinbar nicht, sonst gäbe es ja beispielsweise nicht den Vorschlag plattformistischer Organisierung. Anstatt dass also die Organisation über den sich in ihr versammelnden Individuen steht und diesen, sind sie ersteinmal beigetreten, ihre Ziele und Strategien aufzuwingt, muss eine antiautoritäre Organisation also immer von den Zielen, Leidenschaften und Strategien der Individuen in ihr ausgehen. Sie muss sich also entsprechend der Ideen ihrer Mitglieder und der Umstände, auf die diese angewandt werden, wandeln können. Gelingt das nicht, wird sie zu dem was ich hier einen nach Verwesung stinkenden Organisationskadaver nenne und sollte vielleicht besser aufgelöst werden. Auch sollte eine Organisation niemals zum Selbstzweck werden, d.h. ihre Aktivitäten sollten sich niemals hauptsächlich darum drehen, ihren Fortbestand zu sichern, neue Mitglieder zu werben oder auch neue gemeinsame Projekte zu suchen. Stattdessen sollte sie die Projektualitäten ihrer Mitglieder befördern, die individuelle Initiative ebenso wie die freie Zusammenarbeit der Individuen jenseits irgendwelcher organisatorischer Zwänge.

 

 

Ich denke eine einfache und natürliche Art und Weise das zu gewährleisten besteht darin, sich stets rund um einen bestimmten Zweck zu organisieren. Dabei kann diese Organisierung ganz verschieden aussehen und es wäre lächerlich und gewissermaßen ineffizient, diese allzu sehr zu theoretisieren, auch wenn manch eine*r das mit einiger Akkuratesse bereits getan hat. Ich will mich hier auf ein paar Beispiele beschränken, um klar zu machen was gemeint ist:

 

 

So ist schließlich jeder anarchistische Kongress eine solche Organisation, die aus allen an ihm Teilnehmenden besteht und sich in der Regel der Analyse eines bestimmten Themas widmet. Oft entstehen aus solchen Kongressen gemeinsame Initiativen einiger Teilnehmer*innen sowie weiteren Personen aus deren jeweiligen Umfeldern, manchmal gibt es Folgekongresse, oft gibt es auch Streits bei denen sich herausstellt, dass man so keine gemeinsamen Ziele verfolgen kann, weil man sich hinsichtlich dieses oder jenes Aspekts viel zu uneinig ist. Die Organisation, die der Kongress ist, jedoch ist mehr oder weniger damit Geschichte, dass dieser Kongress vorbei ist, es sei denn er wird eben an anderer Stelle wieder fortgesetzt. Ihr Ziel ist entweder erreicht (eine gemeinsame Analyse wurde gefunden) oder gescheitert (es gab Streit …). Neue Initiativen sind entstanden oder auch nicht. Alles weitere wäre das Aufrechterhalten einer toten Organisation.

 

 

Ein anderes Beispiel sind jene anarchistischen Koordinationen, bei denen deren Teilnehmer*innen nicht zusammenkommen um etwas besser zu analysieren, sondern um den gemeinsamen Angriff auf etwas, von dem man bereits ein Verständnis hat oder zu haben glaubt, zu koordinieren.

 

 

Oder Treffen bei denen sich über aktuelle Entwicklungen in den jeweiligen Kontexten aus denen die Teilnehmer*innen stammen ausgetauscht wird.

 

 

Oder was ist mit gemeinsam erstellten Zeitungen, Büchern und anderen Propagandaschriften?

 

 

All das sind Beispiele von Organisation bei denen ein gemeinsames Ziel im Vordergrund steht und die sich (hoffentlich) dann wieder auflösen, wenn dieses Ziel erreicht ist, es als nicht mehr zu erreichen gilt oder sich die Mitglieder der Organisation entweder nicht mehr für dieses Ziel interessieren oder sie unvereinbare Differenzen untereinander feststellen, die ihnen die weitere Zusammenarbeit verbieten.

 

 

Es gibt selbstverständlich keine einheitliche Organisationsmethode, die all diesen Organisationen zugrundeliegen würde. Denn es ist nicht nur am effizientesten, sondern auch kaum anders denkbar, als dass sich die konkrete Methode der Organisierung dem verfolgten Ziel ebenso anpasst, wie den Umständen unter denen diese Organisierung stattfindet. Manchmal ist sie auch abhängig von einer Taktik, die für die jeweilige Organisation festgelegt ist. Zum Beispiel erfordern manche Organisationen Klandestinität, während diese dem erklärten Zweck anderer Organisationen absolut zuwider laufen würde.

 

 

Aber was ist mit dieser einen Frage, die so viele Anarchist*innen, die nach formvollendeteren Organisationen, dauerhafteren und starreren Organisationen streben, umzutreiben scheint: Wie lassen sich alle Anarchist*innen organisieren? Und wenn man ihnen mal nicht unterstellt, entweder autoritäre oder zersetzende Absichten zu verfolgen, dann muss man sie doch immerhin fragen, was sie sich davon versprechen würden. Und man ahnt es schon: Mit vereinten Kräften lässt sich das Ziel des Anarchismus doch viel besser verfolgen. Aber: Verfolgen denn alle Anarchist*innen das gleiche Ziel? Verfolgen jene, die die industrielle Produktion mitsamt ihren Institutionen, die der Wissenschaft ebenso wie die der Technologie, übernehmen wollen, wenn wir ihnen mal abnehmen, dass sie wahrhaft Anarchist*innen sind, das gleiche Ziel wie jene, die diese zerstören wollen? Verfolgen jene, die die Gesellschaft mithilfe von Räten neu organisieren wollen, gemäß der Bedürfnisse der sich dabei ergebenden politischen Mehrheiten, das gleiche Ziel wie jene, die die Gesellschaft zugunsten von für sich selbst funktionierenden Gemeinschaften auflösen wollen?

 

 

Tatsächlich sind sich die meisten Anarchist*innen ja nichteinmal darin einig, welcher Institution der Herrschaft sie nun an die Kehle springen wollen, ganz zu schweigen davon, dass die Bezeichnung als Anarchist*innen heute auch unter einigen Zeitgenoss*innen verbreitet ist, die offensichtlich keine anarchistischen Ideen haben. Eine gemeinsame Organisation unter all jenen vorzuschlagen bedeutet doch letztlich nichts anderes, als alle Beteiligten an der Umsetzung ihrer Ideen zu hindern und jegliche Initiative zu lähmen.

 

 

Und dies scheint mir die eklatanteste Lüge zu sein, die derzeit von all den Organisator*innen verbreitet wird: Sie behaupten, dass die von ihnen vorgeschlagenen Organisationen der einzige ernsthafte Beitrag zu einem anarchistischen Kampf wäre. Sie behaupten insbesondere, dass all jene Vorschläge, die eine informelle Organisation zu einem bestimmten Ziel vorschlagen, Ausflüchte wären, keine aufrichtigen anarchistischen Kämpfe zu führen. Sie behaupten, dass diese Methode niemals funktionieren könne und zeigen dabei in aller Regel, dass sie sie weder verstanden, noch irgendeine Ahnung davon haben. Und damit belügen sie sich selbst, ebenso wie alle anderen. Denn egal ob sie irgendwelche aus der Zeit gefallenen Vorschläge für Massenorganisationen unterbreiten oder auch nur die anarchistischen Kräfte (und seien es nur die bestimmter Tendenzen) bündeln wollen: Blickt man auf die konkreten Resultate dieser Organisierung, so erblickt man weniger gut aufgestellte Massenorganisationen, sondern vielmehr ein paar Hanswürste, die sich aufspielen als wären sie die Massen und statt handlungsfähiger Vereinigungen anarchistischer Individuen, die kraftvoll ihre Projekte des Angriffs auf die Herrschaft verfolgen, erblickt man um sich selbst kreisende tote Organisationskadaver, die mit ihrem Gestank nach Verwesung noch die letzte Initiative ihrer Mitglieder ersticken.

 

 

Und so bleibt die einzige Organisationsform, die einem irgendetwas garantiert jene der starren Organisationen, aber ihre Garantie läuft auf die vollständige Lähmung jeder anarchistischen Initiative hinaus.

 

Weiterlesen

 

(eine Auswahl)

 

Kritik an bestehenden formellen Organisationsweisen

 

  • Kollektive Einmischung Nr. 6: Wie anarchistisch ist die Plattform?

  • Syfo: Dringende Mitteilung des Instituts für Syndikalismusforschung – Die bürgerlichen Wurzeln des Anarchosyndikalismus

 

Informelle Organisation

 

  • Jean Weir: Zahme Worte eines wilden Herzens

  • Alfredo M. Bonanno: Anarchismus & Aufstand

  • Affinität und informelle Organisation

  • Pierleonne Porcu: Reise ins Auge des Sturms

 

Industrialismus, Kolonialisierung und die Herrschaft über Mensch und Natur

 

  • Damit Amerika leben kann, muss Europa sterben

  • Die industrielle Domestizierung

  • Zündlumpen #080: Nieder mit der Zivilisation

  • Ursprünge: Sechs Essays gegen die Zivilisation

 

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