Versagten die Linken im Ausnahmezustand?
Versagten die Linken im Ausnahmezustand?
Versagten die Linken im Ausnahmezustand?
Wie verlautbart wurde[1], wird die anarchistische Homepage schwarzer.pfeil.de demnächst stillgelegt werden. Die Gründe dafür sind bedauerlich. Trotzdem nahm seit 2019 die inhaltliche Ausrichtung in den Beiträgen auf der Seite eine ziemlich einseitige Wendung, nachdem der vermeintliche „Einheitsquatsch“ beendet wurde. Sprich, entgegen dem Anliegen, eine realistische und genossenschaftliche Abbildung unterschiedlicher aktiver Anarchist*innen darzustellen, wie es in der Gai Dao zehn Jahre lang mehr schlecht als recht versucht wurde, entschieden sich die Betreibenden wieder einmal für die Eindimensionalität.
Diese finden wir meines Erachtens auch beim Text der Autorin Elany vom 25.11.2021 [2], auf den ich mich im Folgenden beziehen möchte. Paradoxerweise wird mit ihm zugleich darauf abgezielt, den Blick und die Diskussion, über die dominierenden Positionen einer verängstigen, relativ saturierten und akademisierten Linken zu weiten. Elany und ich denken offensichtlich auf verschiedenen Ebenen, von unterschiedlichen Positionen aus und mit divergierenden Erfahrungen im Hintergrund. Dennoch finde ich es legitim und sinnvoll, dazu etwas zu schreiben, wenn sich die Argumentation am Gegenstand orientiert. Es geht damit also um die Sache, nicht um irgendwelche realen oder vermeintlichen Grabenkämpfe oder persönliche Differenzen. In gewisser Hinsicht ist dieser Text auch parallel zu jenem von Julian Freitag mit dem Titel Hinnehmen oder durchdrehen? – Linke Konfusion in der Spätpandemie vom 27.11.2021 [3] zu sehen, auch wenn er aus einem anderen Lager kommt und eine graduell andere Stoßrichtung aufweist.
Die Impfpflicht ist zu Unrecht der Aufhänger für den Widerwillen
Obwohl im Text Das Versagen der Linken im Ausnahmezustand von Elany viele wichtige Punkte aufgemacht werden, wird mit der scheinbar klaren Perspektive, die Tatsache umgangen, dass die gleichermaßen dogmatisch und romantisch einseitige Darstellung, gerade eine Folge komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse und Bedingungen, als auch plural aufgestellter emanzipatorischer Akteur*innen ist. Statt tatsächlich eigene Inhalte zu generieren, wird sich nicht davor gescheut, Menschen in „richtige“ und „falsche“ Anarchist*innen einzuteilen und Gemeinplätze vorzutragen. Womit ich nicht sagen will, dass es eine anarchistische Haltung sein könnte, explizit für eine Impfpflicht einzutreten, denn das ist meiner Ansicht nach nicht.
Sich an diesem Thema besonders aufzuhängen, ist es aber ebenfalls nicht, denn es gibt medizinisch gute Gründe für Impfungen sowie sehr viele weitere Themen, in denen wir in unserem Verhalten und Handlungsmustern, in kapitalistische Konzerninteressen oder staatliche Regierungspraktiken, verstrickt sind. Deswegen ist es eine andere Frage, inwiefern „skeptische“ Personen überzeugt werden können, sich impfen zu lassen. Die Impfpflicht stellt dahingehend keine „Grenze“ dar, die um keinen Preis überschritten werden dürfte. Vielmehr wurde diese schon längst überschritten und wird die Selbstbestimmung vieler Menschen täglich massenhaft verletzt – lange bevor verschwörungsmythologisch wirre Leute mit rechtspopulistischer Hetze dazu angestachelt wurden, nun (erneut) ihren Volkszorn zu artikulieren.
Im Vorwurf wird die Bezugnahme auf potenziell Gemeinsames deutlich
Zu dieser Kategorie zählt Elanys Beitrag von Ende November 2021 nicht. Vielmehr versucht die Autorin in ihm, einen Ansatzpunkt für eine anarchistische Positionierung in der gegenwärtigen Situation zu erarbeiten, was sich verständlicherweise als äußerst schwieriges Unterfangen erweist. Denn es gibt den linken Anti-Reflex gegen die reaktionäre Querdenker-Bewegung, als auch den damit verbundenen Konformismus, die Zaghaftigkeit und Staatsgläubigkeit einerseits, als auch die Wahnhaftigkeit andererseits, die offenkundig wieder einmal faschistischen Akteur*innen in die Hände gespielt hat. Nicht jenen, die bei den Querdenker-Spaziergängen mitlaufen, sollten Anarchist*innen zuhören. Aber vielen anderen, die dies nicht tun und dennoch unter den Auswirkungen des pandemischen Ausnahmezustands und aufgrund der Gesellschaftsformation, die ihn hervorbringt und nötig hat, massiv leiden.
Dahingehend bleibt mir unklar, was Elany ausdrücken will, das über ein Auskotzen am Stammtisch hinaus geht. Mit Selbstvergewisserungen wie: „In offener Feindschaft mit jeglicher Autorität und den Menschen, die sie brauchen“ wird dies verschleiert. Denn wenn sie den Autoritarismus, die falsche Hoffnung auf schnelle, technische Lösungen und den Anti-Reflex von Linken kritisiert, warum – so wäre einzuwenden – kritisiert sie dann überhaupt das „Versagen“ oder gar das „Totalversagen“ „der Linken“ im pandemischen Ausnahmezustand?
Viel naheliegender und überzeugender wäre es, sie würde die Logik herausarbeiten, nach welcher die von ihr adressierten Linken den als problematisch kritisierten Verhaltensweisen verfallen. Plausibler wäre es, festzuhalten, dass viele Linke sich mit ihrem politischen Denken und Handeln ganz wesentlich auf den Staat beziehen. Warum sie also moralisch dafür kritisieren, dass sie es tun? Wäre es nicht sinnvoller, ihre verständliche Angst zu thematisieren und die Frage anzuregen, wie wir jeweils und gemeinsam mit unseren Ängsten umgehen können, anstatt auf verkürzte und staatlich vermittelte Lösungsangebote hereinzufallen? Wäre es wichtig, die Debatte nicht darum zu führen, ob es Proteste gegenüber reaktionären Tendenzen und Bewegungen geben sollte, sondern wie diese ausgestaltet werden müssten, um zugleich eine klare emanzipatorische Positionierung zu entwickeln und zu verbreiten? Weil Elany derartige Fragen nicht stellt, ist ihr Denken zumindest nicht als radikal anzusehen.
Die Komplexität der Konstellation anerkennen
Bedauerlich greift die Argumentation im Text meiner Ansicht nach nur teilweise, weil mit ihr die zu kritisierende „Linke“ als Strohpuppe aufgebaut wird. Dass mensch sie danach unterscheiden oder beurteilen könnte, ob sie sich „auf Seite der Autorität gestellt haben“ oder nicht, scheint mir kein hinreichendes Kriterium zu sein – auch wenn ich mich persönlich mit Staatsfetischist*innen nicht mehr abgebe, wofür ich allerdings keine Kategorie der „Feindschaft“ brauche, sondern eine Haltung und Position.
Unter anderem wird verkannt, dass absurde Kampagnen wie „Zero Covid“ unter ganz
verschiedenen linken Aktiven umstritten sind – trotz des kurzweiligen Hypes, den sie erfahren haben. Ich selbst habe die Kampagne von Anfang abgelehnt und nicht erst letzten Jahres irgendwann. Doch auch der Punkt der staatlichen Repression ist kontroverser. Immerhin gab es zahlreiche Linke, welche die offensichtliche Unsinnigkeit dieser autoritären Maßnahmen in Hinblick auf die Pandemiebekämpfung kritisierten und dabei auch feststellten, dass die staatliche Narrative und die Erneuerung staatlicher Souveränität durchaus genutzt werden können, um die Befugnisse des Polizeistaates auszuweiten.[4]
Schließlich wollen auch nicht alle Linken „Bullen“ spielen, weil sie bestimmte Maßnahmen akzeptieren oder in ihrem Umfeld einfordern. Klar kann es sein, dass dahinter die zuvor verdeckte Staatsverblödung und ein Autoritarismus steht. Vielleicht ist es aber auch der Fall, dass die entsprechenden Personen aus nachvollziehbaren Gründen ein hohes Sicherheitsbedürfnis sich selbst oder anderen gegenüber haben. Abgesehen davon, dass es absolute Sicherheit nie geben kann und sollte, ist dies berechtigt. Die Gründe sind individuell also sehr unterschiedlich gelagert. Menschen fangen dann an, individuell Bullen zu spielen, wenn keine kollektiv und partizipativ ausgehandelten Regeln für Gruppen und Räume vereinbart werden.
Was den „Impfnationalismus“ angeht – sprich der global ungleichen Verteilung und Verfügbarkeit von Impfstoffen nach ökonomischer und politischer Macht der jeweiligen Nationalstaaten -: Jenen, die in der Pandemie meinen „Viel hilft viel“, ist entgegen zu halten, wie strukturell ungerecht die Verfügung über Gesundheitsgüter geschieht. Diese Erkenntnis stammt nur nicht von der Autorin, sondern von entwicklungspolitischen Gruppierungen, die sich wohl weniger selbst als „anarchistisch“ verstehen würden oder zu verstehen brauchen.[5] Übrigens wurde die Kritik am „Impfnationalismus“ bis weit in die bürgerlichen Medien oder von Sozialdemokrat*innen aufgegriffen.[6] Abgesehen davon lässt sich daraus umgekehrt nicht ableiten, dass eine ungleiche globale Verteilung zu einem Verzicht auf das „Impf-Privileg“ anregen sollte – denn dadurch gelangt der Impfstoff ebenso wenig in benachteiligte Länder, noch wird die Pandemie dort effektiv zurückgedrängt, wo dies ansatzweise möglich ist.
Kein linkes Kollektivsubjekt braucht moralisch verurteilt zu werden
Wenn vom „Versagen“ der Linken gesprochen wird, bedeutet dies in moralischen Kategorien zu denken. Ähnlich wie beim Vorwurf des „Verrates“ greift diese Behauptung aber nur dann, wenn zuvor ein bestimmter Anspruch vorgetragen wurde, der nicht erfüllt werden konnte, oder, wenn eine Vereinbarung getroffen wurde, die nicht eingehalten wurde. Damit wird allerdings eine Unterstellung aufgemacht, die spätestens an dieser Stelle deutlich werden lässt, dass es so etwas wie „die“ Linken gar nicht gibt. Wer sich zum Staat bekennt oder welche Maßnahmen fordert oder mitträgt ist dabei – bei aller Feindschaft! - kein ausreichenden Kriterium, um Menschen einzusortieren. Vielmehr haben wir es mit einem multiplen, verzweigten und fluiden Netzwerk sehr unterschiedlicher Akteur*innen zu tun. An dieses gilt es keine Erwartungen oder gar Forderungen zu stellen, sondern mit der jeweiligen Gruppe und Strömung das eigene Umfeld zu organisieren, davon ausgehend Aktivitäten hervorzubringen und diese in den Vordergrund zu stellen. Auf dieser Basis kann mensch dann auch sinnvoll kritisieren, vorschlagen, vorleben.
Wer von bestimmten linken Gruppen oder Menschen – möglicherweise zu recht – enttäuscht ist, geht von einem Versprechen aus, welches gebrochen wurde. Durch die Kritik an verschiedenen Akteur*innen und beobachtetem Verhalten, soll also eine Abgrenzung vorgenommen werden, welche gerade damit die Bezogenheit der Autorin auf eine potenziell gemeinsame autonome Bewegung verdeutlicht. In diesem Zusammenhang wünsche ich Elany, dass ihre eigenen Aktivitäten nicht in den selben moralischen Kategorien und leistungsorientierten Maßstäben gemessen werden, welche sie anwendet.
Ein konsequenter Bruch mit den kritisierten Linken ist an selbstorganisierten, nach Autonomie strebenden Alternativen festzumachen
Schließlich zeigt sich, dass der verbal-radikal vorgetragene konsequente Bruch mit „der Linken“[7] gar nicht vollzogen und noch gar keine Position bezogen wurde, die einen eigenen Inhalt aufweist. Jene gälte es jedoch zu entwickeln und Handlungsanregungen für Anarchist*innen und mit ihnen sympathisierende Personen vorzuschlagen. Dies bedeutet, über die bloße Kritik, die reine Negation oder die Destruktion/Destitution hinaus zu gelangen und für die Organisierung eines konstruktiven, sozial-revolutionären Projektes einzutreten. Es wäre auch die Grundlage dafür, einen gemeinsamen Nenner zu suchen.
Geschieht dies nicht, verbleibt jede Kritik an linken Akteur*innen im pandemischen Ausnahmezustand im Grunde genommen in den gleichen Reflexen und Glaubenssätzen, wie sie den Kontrahent*innen und potenziellen Genoss*innen vorgeworfen werden. Statt von mehr oder weniger subjektiven Eindrücken und privaten „Meinungen“ auszugehen, sind Prozesse der gemeinsamen Bewusstseinsbildung und Wahrheitsfindung anzustreben, die zur Stärkung eines heterogenen Bündnisses sozial-revolutionärer und emanzipatorischer Akteur*innen dienen. Es sollte darum gehen, was wir - in und mit unseren Differenzen - gemeinsam mit vielen unterschiedlichen Menschen potenziell verwirklichen und erreichen können, statt um die Aufrechterhaltung von „reinen“ Identitäten und Dogmen. Dies ist meiner Ansicht nach anarchistisch.
Ich stimme Elany allerdings darin zu, dass die Auswirkungen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung so gut wie ganz ignoriert werden und dies insbesondere, was besonders verletzbare soziale Gruppen angeht. Das betrifft auch die von Elany angesprochene psychische Verletzbarkeit.[8] Das sollte auch skandalisiert werden, um aufzuzeigen, wie arg staatliche Politik und Linke, die sie stützen ihren eigenen Behauptungen entsprechend versagen. Die politische Klasse ist daher auch nicht im Stande zu begreifen, warum Personen in die Schwurbelei, das Reichsbürgertum, die Esoterik usw. abdriften. Denn dies ist die Kehrseite ihrer entmenschlichenden technokratischen Regierungspraktiken.
Jens Störfried
[1] https://schwarzerpfeil.de/2021/12/31/alles-hat-ein-ende/
[2] https://schwarzerpfeil.de/2021/11/25/das-versagen-der-linken-im-ausnahmezustand/
[3] https://barrikade.info/article/4881
[4] https://www.tag24.de/leipzig/protest-gegen-ausgangssperre-spontan-demo-am-lene-voigt-park-1944108
[5] Gastkommentar vom 31.01.2021
https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2090314-Impfnationalismus-waere-bei-Corona-fahrlaessig.html
[6] Statement der europäischen Sozialdemokraten vom 10.02.2021: https://www.socialistsanddemocrats.eu/de/newsroom/sd-fraktion-wir-sagen-nein-zum-impfnationalismus-die-impfung-muss-der-eu-und-weltweit
[7] https://maschinenstuermerdistro.noblogs.org/post/2020/07/20/mit-der-linken-brechen/
Ergänzungen
Jens, Jens, Jens, … waren wir nicht schon einmal weiter?
Jaja Jens, die Dialektik der Aufklärung, nicht? Aber was wenn es gar keine Dialektik ist? Manchmal ist eine Dialektik, die man entwickelt, um Widersprüche auszuhalten ja eben genau das, was den Blick verstellt … Weißt du Jens, man könnte geneigt sein, dir in manch aufgeworfenem Punkt zuzustimmen, auch wenn man sich ein wenig fragen mag, warum du dir hier in einem Text von Elany, deren Arbeit sich ja nicht auf diesen einen Text beschränkt und die eine erstaunliche Kontinuität einer Analyse aufweist, wenn man sie mit deinem, nun ja, Online-Tagebuch, vergleicht, einen Strohmann aufbauen musst, um deine Überlegungen anzustellen. Aber dann sagst du doch immer wieder so verdammt dumme Sachen wie
"Dies bedeutet, über die bloße Kritik, die reine Negation oder die Destruktion/Destitution hinaus zu gelangen und für die Organisierung eines konstruktiven, sozial-revolutionären Projektes einzutreten. Es wäre auch die Grundlage dafür, einen gemeinsamen Nenner zu suchen."
Und wieder ist es deine störfriedsche Dialektik, die dir im Wege steht, denn die Sache liegt doch ganz einfach …
Der einzig notwendige gemeinsame Nenner ist die reine Negation der bestehenden Verhältnisse, die Destruktion der Zivilisation in der wir leben. Einen anderen gemeinsamen Nenner braucht es nicht, zumindest nicht jenseits jener Beziehungen, innerhalb derer, dieses Projekt der totalen Zerstörung, der totalen Subversion seinen konkreten Ausdruck findet. Einen solchen gemeinsamen Nenner in Form eines konstruktiven Projekts anzustreben … nun, das erklärt doch immerhin so einiges autoritäre an deinem Denken … steht eben außerhalb jedes Projekts der Anarchie.
Ein Nihil-Egoist, darauf lege ich Wert.