Die gespaltene Republik
In Istanbul ist es ungemütlich in den letzten Tagen. Der Himmel ist bedeckt, es blitzt, donnert, die Menschen suchen Schutz in den Geschäften und Passagen der Millionenstadt. Es braut sich etwas zusammen.
Ziemlich genau eine Woche bin ich nun hier. Istanbul. Die 14-Millionen-Einwohner Metropole ist das Zentrum und Aushängeschild der Türkei. Zentrum für Kultur, Handel, Medien und Finanzen. Die Stadt pulsiert, polarisiert und fasziniert. Nicht umsonst fiel die Entscheidung leicht hier zwei Monate zu verbringen um einen authentischen Blick auf die Türkei, ihre Bewohner, ihre Kultur und vor allem ihre Politik zu erhaschen.
Ich lebe in Ataşehir. Weit weg von den populären Sehenswürdigkeiten und teuren Flaniermeilen der Stadt liegt Ataşehir auf der asiatischen Seite der Stadt, etwa 20 Kilometer entfernt vom Hafenbezirk Kadiköy. Hier ticken nicht nur die Taxiuhren etwas langsamer als in den touristischen Gebieten der Metropole. Touristen verlaufen sich nur in den seltensten Fällen in diesen Stadtteil, einige der Anwohner glauben sogar zu wissen, dass man hier vorher noch nie einen Touristen gesehen habe. Ataşehir steht sinnbildlich für die Spaltung der Türkei, der Klassifizierung einer Gesellschaft.
Hier gibt es keine Edelboutiquen, keine Straßenbahnen und schon gar keine Konterfeis des Premiers, Recep Tayyip Erdogan. Tagtäglich dröhnt die Bassbox eines Gemüsehändlers durch die Straßen. Wer etwas kaufen möchte, lässt einfach einen Eimer mit dem passenden Geld an der Hauswand herunter und zieht seine Waren hinauf. Wasser wird bis an die Haustür geliefert. Es geht familiär zu in Ataşehir. Man kennt sich, hilft sich und schätzt sich.
Als Tourist fällt man auf in diesem Teil Istanbuls. Der erste Gang zum Supermarkt: Eine Attraktion für das ganze Viertel. Die Belegschaft verlässt ihren Arbeitsplatz, um zu sehen was die Ausländer denn so kaufen. Man lacht, ist freundlich, doch auch etwas distanziert.
Nur eine Woche nach meiner Ankunft finden die Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Klarer Favorit: Recep Tayyip Erdoğan. Wenn es nach dem Bildungsministerium der Türkei geht, ist die Wahl schon fünf Tage vor dem Gang zu den Urnen entschieden. So wird der Ministerpräsident in einem neu erschienenen Schulbuch schon als zwölfter Staatspräsident der Türkei bezeichnet. Erwartet hatte ich einen offen geführten Wahlkampf. Doch das Duell scheint ungleich. Fährt man auf die europäische Seite, kann man dem amtierenden Ministerpräsidenten nicht entgehen. Er ziert Häuserfassaden, Straßenzüge, U-Bahnen. Von seinen Widersachern ist dagegen wenig zu sehen. Sie beklagen einen ungerechten Wahlkampf. Wer will ihnen das verübeln? Am deutlichsten zeigt sich dieses Ungleichgewicht in den Sendezeiten, die den einzelnen Kandidaten zustehen. Der türkische Staatssender räumte Erdogan ganze 533 Minuten Werbezeit zu. Die verbliebenen Kandidaten waren insgesamt keine fünf Minuten zu sehen.
Erdogan arbeitet mit Nachdruck an seinem eigenen Denkmal. Gewinnt er die Direktwahl zum Präsidenten, könnte er bei einer Wiederwahl bis zum Jahr 2024 an der Spitze des türkischen Staates bleiben. Dann würde er das Land auch beim 100. Jahrestag der türkischen Republik im Jahr 2023 repräsentieren.
Für die Gegner des Ministerpräsidenten eine Horrorvorstellung. Man fürchtet einen vollkommen autoritären Staat, in dem der Rechtsstaat, die freie Presse und die Zivilgesellschaft geknebelt sind. Und diese Ängste sind durchaus begründet.
Reporter ohne Grenzen beklagt seit Jahren das rigorose Vorgehen gegen einheimische wie auch ausländische Journalisten. Von 180 gelisteten Staaten belegt die Türkei aktuell Rang 154 in Sachen Pressefreiheit. Damit spielt man in einer Liga mit dem autokratisch regierten Weißrussland und der Republik Kongo.
Das rigorose Vorgehen des türkischen Staatsapparates gegen jede Form der freien Meinungsäußerung zeigte sich nicht zuletzt im Zuge der Gezi-Proteste des letzten Jahres. Dialog? Nicht erwünscht. Fazit? Tausende Verletzte und Festnahmen.
Erdogan duldet keine Kritik. Wer es trotzdem wagt gilt schnell als Vaterlandsverräter. Dabei kann es jeden treffen: Ob Politiker oder Journalist. Viele Journalisten verloren wegen unerwünschter Berichterstattung ihre Jobs, einige davon sitzen im Gefängnis. Wer sich klar gegen Erdogans Politik auf der Straße positionierte, bekam die volle Härte des türkischen Staates zu spüren. Auch vor der diesjährigen Wahl lässt der Staat die Muskeln spielen. So fährt man am Taksim-Platz, dem zentralsten Platz Istanbuls, seinen Fuhrpark vor. Räumfahrzeuge, Polizisten in Kampfanzügen. Man warnt die Bevölkerung vor.
Doch nicht nur so offen wird eine klare Drohkulisse erschaffen. So mischen sich etliche Polizisten in Zivil unter die Menschenmassen, die tagtäglich den Istiklal CAD säumen, die Hauptflaniermeile Istanbuls. Man hält seine Bevölkerung an der kurzen Leine. Versammlungs- und Meinungsfreiheit? Keine Selbstverständlichkeiten in der Türkei. Uneingeschränkter Informationsfluss über das Internet? Ebenfalls nicht.
Für viele galt die Kommunalwahl im März als entscheidender Test für die Präsidentschaftswahlen. Erdogans AKP erzielte einen großen Triumph, erhielt fast 50% der abgegebenen Stimmen. Doch was ist mit den übrigen knapp 50% der Wählerschaft? Viele von ihnen sympathisieren mit den Gezi-Protestlern, kämpften selbst auf der Straße für eine freie, offene Türkei. Doch konnte aus der so starken Bewegung keine starke Front gegen Erdogans AKP erwachsen. Spricht man die Leute auf die Proteste des letzten Jahres an, spürt man den Stolz, die Freude an die Erinnerungen in den Erzählungen. Trotz aller Entbehrungen und Gewalt hatte man der Welt gezeigt, dass Erdogan keineswegs die ganze Türkei repräsentiert. Die verschiedensten Strömungen versammelten sich unter dem Mantel der Occupy Gezi Bewegung. Man erlangte die Gewissheit, dass man dazu in der Lage sei, für seine Vorstellungen und Ideale zu kämpfen. Doch eine klare, gemeinsame Front gegen Erdogan konnte aus den Protesten nicht erwachsen.
Erdogans Stärke ist die Schwäche seiner politischen Konkurrenten. Hauptkonkurrent Erdogans ist Ekmeleddin İhsanoğlu, Wissenschaftshistoriker und gemeinsamer Kandidat der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP und der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP. Doch gerade in der sozialdemokratischen CHP-Basis, insbesondere den Aleviten, kommt keine wirkliche Begeisterung für İhsanoğlu auf.
Zum Shootingstar der Wahl wurde jedoch bislang Selahattin Demirtaş, Kandidat der linken Demokratischen Partei der Völker HDP. Der kurdische Rechtsanwalt sieht sich als Repräsentant eines Lagers abseits der nationalistischen und religiösen Parteien. Demirtaş tritt mit dem Anspruch an, den ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen wie Kurden und Aleviten, den Frauen, der Arbeiterbewegung und den Homosexuellen eine Stimme zu geben. Zu Wahlkampfauftritten fuhr er mit dem Fahrrad, zeigte sich in der Öffentlichkeit mit seiner Familie. Ein Novum in der Türkei. Chancen bei der Wahl? Sehr gering.
Vom Wahlkampf ist in Atsasehir nicht viel zu sehen. Ein einziges Mal gibt es einen Stand der Partei Selahattin Demirtaş. Drei ältere Damen singen und tanzen bewaffnet mit Mikrofonen an einer kleinen Straßenecke und verteilen Flyer. Die Begeisterung der Anwohner hält sich in Grenzen, kaum jemand beachtet den Stand oder lässt sich auf ein Gespräch ein. Wahlplakate gibt es nur vereinzelt. Dafür umso mehr Plakate mit dem Konterfei Hasan Ferits, Teil der Occupy Gezi-Bewegung, erschossen nach einer Demonstration am 29. September 2013.
Von Erdogans AKP keine Spur. Am Sonntag, eine Woche vor der Wahl, hat Erdogan einen Wahlkampfauftritt in Istanbul, natürlich auf der anderen Seite der Stadt. Auf dem Weg dahin durchquert ein AKP-Bus das Viertel, Flaschen fliegen. Das halten die Bewohner Ataşehirs von ihrem Premier. Am selben Abend wird das vornehmlich von Aleviten und Kurden bewohnte Istanbuler Viertel Gazi angegriffen. Es kommt zu heftigen Krawallen, Leute werden schwer verletzt. Öffentliche Berichterstattung? Fehlanzeige. Schlechte Presse so kurz vor der Wahl ist nicht erwünscht.
Der Wahltag zeigt schnell, dass sich alle Befürchtungen bestätigen würden. Schon in den ersten Umfragen liegt Erdogan weit vorne. 53 Millionen Türken sind erstmals dazu berechtigt direkt ihren Präsidenten zu wählen. Über die Hälfte derer, die den Weg an die Wahlurne antreten, geben ihre Stimme Recep Tayyip Erdogan. Oft wurde in der Vergangenheit davon gesprochen, dass Erdogan eine geheime Agenda verfolgt. Tatsächlich ist Erdogans Agenda keineswegs geheim. Bei jeder Gelegenheit unterstreicht Erdogan seine Absicht, eine islamisch-konservative Gesellschaft zu bilden. Mehr Macht für den Präsidenten, weniger Freiraum für die Bevölkerung. In diese Richtung steuert die Türkei.
Um 19:01 Uhr ist es offiziell. Justizminister Bekir Bozdag erklärt Recep Tayyip Erdogan zum Gewinner der Präsidentenwahl.
So geht die Türkei in eine Zukunft der Spaltung. Die eine Hälfte des Landes steht geschlossen hinter ihrem Premier, die andere entfernt sich immer weiter von ihm. Gerade baut man eine dritte Brücke über den Bosporus, die den europäischen und asiatischen Teil miteinander verbinden soll. Eine solche Verbindung gibt es innerhalb der türkischen Bevölkerung jedoch nicht.
christian stahl, istanbul | lowerclassmagazine ( blog / facebook / twitter )