»Rojava ist eine wirkliche Chance«
Im Norden Syriens kämpfen Kurd_innen für ein selbstbestimmtes Leben. Leicht ist das angesichts der militärischen Auseinander-setzungen mit radikalislamischen Gruppen wie IS nicht. medico international unterstützt die Menschen vor Ort mit Hilfsprojekten. Wir haben Martin Glasenapp, den Syrien-Koordinator von medico, zur Situation vor Ort befragt.
medico arbeitet seit kurzem an einer Blutbank für Kobanî. Kobanî liegt im kurdischen Teils Syriens, Rojava, dort, wo derzeit ein bewaffneter Konflikt zwischen verschiedenen Milizen zahlreiche Opfer fordert. Kannst du kurz die Lage vor Ort schildern? Wer kämpft gegen wen, wo verlaufen die Fronten? Wie schätzt du die Kräfteverhältnisse ein? Wie stark sind ISIS, FSA und YPG jeweils?
Kurd_innen machen in Syrien etwa 15% der Bevölkerung aus. Viele von ihnen, die vormals in Damaskus, Homs oder vor allem in Aleppo lebten, sind aufgrund der fortgesetzten Kämpfe in die nordsyrischen Gebiete der kurdischen Selbstverwaltung entlang der türkischen Grenze zurückgekehrt. Kobanî liegt quasi direkt auf der Grenze zur Türkei und ist der mittlere und zweitgrößte Kanton der kurdischen Autonomie. Die Dschihadisten von ISIS sind bereits seit einem Jahr in der Gegend aktiv, besonders in der arabisch-kurdischen Grenzstadt Tall Abyad, von wo sie auch den offiziellen Grenzübergang in die Türkei kontrollieren. Seitdem wird Kobanî regelrecht belagert.
Vor sechs Monaten schon haben die radikalreligiösen Milizen die Stromversorgung komplett gekappt und damit ist auch die Wasserversorgung durch elektrische Pumpsysteme zusammengebrochen. Es gibt einen Notbehelf mit zahlreichen neu gegrabenen Brunnen, aber wenn eine ganze Stadt ihren Strombedarf nur durch Dieselgeneratoren decken kann, wirft das natürlich enorme Alltagsprobleme auf, die noch gar nichts mit direkten Kriegshandlungen zu tun haben. Die Front selbst ist teilweise bis auf 15 Kilometer an die Stadt herangerückt. Das liegt vor allem an den schweren Waffen, mit denen ISIS jetzt aus dem Irak zurückgekommen ist. So wurden jetzt die ersten Panzer und Feldhaubitzen vor Kobanî gesichtet, die die US-Army vormals der irakischen Armee in Mosul übergeben hatte und die ISIS jetzt erbeutet hat. Das erklärte Ziel ist es Kobanî zu erobern, um auch dort das salafistische Terror-Kalifat auszurufen und zugleich einen unwiderruflichen Keil in das kurdische Siedlungsgebiet zu treiben. Wenn das geschehen sollte, werden nicht nur mindestens 300.000 Menschen binnen Stunden in die Türkei fliehen, sondern dann wird auch die kurdische Enklave Afrin kaum überleben können. Aber soweit ist es längst noch nicht. Ohne Pathos kann man sagen, dass die Menschen ihre begonnene Selbstverwaltung, ihr Land und damit vor allem auch ihre Lebensweise bis zuletzt verteidigen werden. Sie wissen, dass sie alle, besonders die Frauen, unter ISIS kaum ein wirkliches Lebensrecht haben werden, dass ihre Religion - so sie denn Yeziden, Christen oder Schiiten sind – verboten wird und dass ihre Heiligtümer und Kultstätten zerstört werden. Alle in Syrien wissen mittlerweile, was in Raqqa passiert, wo ISIS seit über einem Jahr herrscht und niemand will sich dem ergeben.
Dennoch sind in den letzten Wochen über zehn Dörfer in die Hände der Dschihadisten gefallen. Das Szenario ist immer gleich: Sobald die bärtigen Kämpfer auftauchen, flieht die Bevölkerung. Besonders gilt das nach einem Vorfall vor ein paar Monaten, als ISIS-Milizen ein arabisches Dorf zwischen Aleppo und Kobanî überrannten und alle Bewohner_innen in der Annahme umbrachten, sie seien schiitische „Ungläubige“. Aber die schiitische Bevölkerung war schon Monate zuvor geflohen und in dem verlassenen Ort hatten sich sunnitische Flüchtlinge aus Aleppo angesiedelt. Der Vorfall hat unter den sunnitisch-arabischen Dörfern der Region zusätzlich eine große Verunsicherung ausgelöst. Kobanî selbst kann über die regulären Straßen in Syrien kaum mehr erreicht werden. Alle wichtigen Verbindungen nach Westen, Osten und Süden werden von den Dschihadisten kontrolliert. Nach Norden blockiert die Türkei die Grenze und es gibt unzählige lokale Berichte über die direkte oder indirekte Unterstützung der Dschihadisten durch die Türkei. Ende Mai wurden beispielsweise hunderte Studierende, die zu Prüfungen an die Universität nach Aleppo reisen mussten, an den Checkpoints der Dschihadisten verhaftet. Wer Kobanî als Wohnort in seinem Ausweis stehen hatte wurde mitgenommen und verschleppt. Seit Wochen läuft daher in Kobanî von vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen, nicht nur von der PYD, eine Solidaritätskampagne für die Freilassung der Verhafteten.
Die kurdische Verwaltung von Kobanî hat angesichts dieser andauernden tödlichen Gefahr eine Art freiwillige Mobilmachung ausgerufen und wirklich sehr viele junge Frauen und Männer melden sich bei den kurdischen YPJ-Frauen- und gemischten YPG-Selbstverteidigungseinheiten. Viele kurdische Jugendliche kommen auch aus der Türkei. Unlängst haben hunderte Demonstrant_innen in einer nächtlichen Aktion den türkischen Grenzzaun niedergerissen, um die Blockade von Kobanî zu beenden. Für sie ist Rojava so etwas wie ein Vorgriff auf eine kurdische Zukunft, die sie auch in der Türkei ersehnen. Aber es gehen auch jene zu den bewaffneten Einheiten, die mit der Politik der kurdischen PYD ansonsten nicht einverstanden sind. Die Leute unterscheiden zwischen der Parteipolitik, die ja auch umstritten ist, und den bewaffneten YPG-Einheiten der Region. Sie wissen, dass nur deren Existenz die Möglichkeit einer innerkurdischen Auseinandersetzung mit der Politik der PYD garantiert.
Aber es gibt nicht nur kurdische Einheiten, auch regionale Gruppen der „Freien Syrischen Armee“ und kleine christliche Milizen haben sich mit der kurdischen Selbstverteidigung zu einem koordinierten Kommando zusammengeschlossen. Das ist wichtig zu erwähnen, weil gerade in der linken Solidarität mit Rojava oft vergessen wird, dass nicht nur Kurd_innen die Opfer der neuen radikalreligiösen ISIS-Internationale werden, sondern dass im letzten Jahr auch sehr, sehr viele FSA-Kämpfer und oppositionelle syrische Aktivist_innen der ersten Stunde von den Dschihadisten getötet wurden. Die Verluste der YPG scheinen auf jeden Fall höher zu werden. Es gibt veröffentlichte Zahlen von allein 150 Toten im letzten Monat und über Twitter gibt es immer mehr Fotos der Gefallenen und von ihren Beerdigungen. Die Zahl der Toten auf Seiten der Dschihadisten soll weitaus höher sein. Beobachter aus der Region verwundert das nicht. Sie betonen oft, dass gerade die jungen internationalen ISIS-Kämpfer sehr schlecht ausgebildet sind und von ihren Kommandeuren kaltblütig in den Tod geschickt werden. Während die gefallenen kurdischen YPG-Kämpfer_innen mit Namen und Bildern veröffentlicht und in ihren Heimatdörfern unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt werden, lassen die Dschihadisten ihre Toten einfach liegen. Eine Identifizierung gelingt meist nur, wenn sie noch ihren Pass dabei haben. Es gibt nicht nur in Kobanî ein Komitee, das diese Leichen einsammelt, mit Würde beerdigt und ihre Pässe aufbewahrt, falls sich möglicherweise doch noch Angehörige aus dem Ausland melden sollten.
Wie sieht die medizinische Versorgungslage allgemein in Rojava aus?
Die Gesundheitslage ist schlecht, wenn auch wesentlich besser als in den umkämpften Regionen und Städten in Zentralsyrien, etwa in Aleppo, im Süden von Damaskus oder in Daraa an der jordanischen Grenze, wo das Regime seine berüchtigten Fassbomben auf oppositionelle Stadtviertel abwirft oder mit Scud-Raketen ganze Dörfer pulverisiert. Trotz der zunehmenden Kämpfe passiert das noch nicht in den kurdischen Gebieten, dennoch ist die medizinische Versorgung aber kurz vor dem Kollaps. Zum einen liegt das an den mindestens zwei bis drei Millionen Flüchtlingen, die in die drei kurdischen Kantone geflüchtet sind, zum anderen aber ist die fehlende Infrastruktur und der völlige Zusammenbruch der syrischen Medikamentenproduktion für den Mangel verantwortlich.
Die kurdischen Gebiete Afrîn, Kobanî (Ain al-Arab) und Cizîre (Dschazira) liegen alle im Norden oder Nordosten von Syrien. Zwar gibt es in Cizîre eine ertragreiche Landwirtschaft und bedeutende Ölvorkommen, aber die kurdischen Siedlungsgebiete waren dennoch traditionell eher arm, und die an sich nicht schlechte flächendeckende Gesundheitsversorgung im Vorkriegssyrien vernachlässigte die kurdischen Siedlungsgebiete. Als das Regime dann im Sommer 2012 bis auf die Stadt Qamisli die Gegend vorerst aufgab, verließen nicht nur Polizisten, Militärs, Geheimdienstler und Verwaltungsangestellte schlagartig die Region, sondern mit ihnen auch Ärzte und medizinisches Personal. In dem kurzzeitigen Machtvakuum wurden viele Krankenhäuser von oppositionellen Milizen geplündert und das medizinische Gerät in der Türkei auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ich habe etwa in Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) ein solches Krankenhaus gesehen, das quasi komplett entleert war. Eigentlich war es eine moderne Poliklinik, in der es von der Chirurgie bis zur Mutter-Kind-Station fast alles gab, aber es waren keinerlei medizinischen Geräte mehr da.
Auch deswegen gibt es in Rojava keine funktionierende Dialyse-Stationen mehr, Diabetikern fehlt das Insulin und die zahlreichen Stromausfälle verhindern eine sichere Kühlkette, komplizierte medizinische Eingriffe scheitern an fehlender Technik, Krebspatienten können nicht mehr behandelt werden. Weil die medizinische Vorsorge fehlt, kommen auch Infektionskrankheiten wie Leishmaniose zurück, deren Erreger besonders in den heißen und trockenen Sommermonaten von Sandmücken verbreitet werden. In den Flüchtlingsunterkünften ist die Wasserversorgung schwierig, daher gibt es eine hohe Zunahme von Durchfall- und Hauterkrankungen. Es ist noch nicht so schlimm wie etwa in Yarmouk, einem palästinensischen Stadtteil von Damaskus, wo es jetzt die ersten Typhusfälle gibt, weil die syrische Armee das Lager seit fast einem Jahr aushungert, aber je mehr Flüchtlinge kommen, desto komplizierter wird es. Dazu fehlen zahlreiche Grundmedikamente für normale Alltagskrankheiten oder werden zu hohen Schmuggelpreisen angeboten. Eigentlich hätte Rojava durch seine Grenznähe zur Türkei gute Voraussetzungen den Mangel abzuschaffen, aber die Türkei hat besonders Kobanî immer noch nicht die Möglichkeit des Grenzhandels eingeräumt und lässt Hilfslieferungen nur nach einem komplizierten Prozedere zu, dass der zuständige Gouverneur auch immer wieder nach Gutdünken aussetzen kann. Auf syrischer Seite kommt erschwerend hinzu, dass die drei Kantone, die zusammen Rojava bilden untereinander keine durchgehende Verbindung mehr haben. Hilfslieferungen können nicht von Ort zu Ort gebracht werden, weil viele arabische Ortschaften von der ISIS-Miliz kontrolliert werden, die diese Transporte sofort kapert oder die Fahrer verschleppen. Das heißt jeder Kanton muss sich selbst helfen. Nur in Cizîre (Dschazira) ist die Versorgung durch die lange Grenze mit der Türkei und die Grenze zum Irak etwas besser.
Euer Projekt einer Blutbank läuft jetzt an. Kannst du was zur Entstehung und Realisierung sagen?
Erstmal muss man wirklich sagen: Ohne die kurdische Zivilgesellschaft in der Türkei gäbe es vielleicht schon heute kein Rojava in Syrien mehr. Es ist wirklich eine riesengroße Solidarität, die die kurdische Bewegung in der Türkei, aber auch in Europa leistet. Das sind Sach- und Geldspenden, aber auch ganze Lastwagenladungen mit Grundnahrungsmitteln, Hygiene-Artikeln, Kinderspielzeug und natürlich auch Medikamenten. Organisiert wird das über die BDP-Bürgermeistereien und eine Zentrale in Diyarbakir (Amed). medico hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit kurdischen Menschenrechtlern in der Türkei zusammengearbeitet und gemeinsame Projekte gemacht. Insoweit war es für uns naheliegend, dass wir mit der kurdischen Zivilgesellschaft in der Türkei unsere Nothilfe in Rojava koordinieren. Hier sitzen einfach die Leute, die sich auskennen, die im steten Kontakt mit den kurdischen Strukturen in Syrien stehen, die wissen, wann welcher Grenzübergang offen ist und welchen Grenzkommandeur man beim Teetrinken besäuseln muss, damit er das notwendige Papier dann doch unterschreibt. Hält man sich in den kurdischen Gebieten an der Grenze auf, dann merkt man einfach, das links und rechts der Gleise der alten Bagdad-Bahn, an der entlang die imperiale Grenze zwischen Syrien und der Türkei willkürlich gezogen wurde, tatsächlich ein Kurdistan ist. Die Menschen haben trotz der jahrzehntelangen Trennung eine enge Verbindung zueinander. Viele haben Verwandte auf beiden Seiten, es wird die gleiche Sprache gesprochen und es gibt zudem auch eine durchaus vergleichbare Verfolgungsgeschichte.
Nachdem medico im März eine erste Lastwagenladung an Medikamente nach Kobanî schicken konnte, bekamen wir jetzt die Rückmeldung des lokalen Ärztekomitees, dass sie dringend eine Blutbank bräuchten, weil ihnen sonst die Leute förmlich wegsterben würden. Auch in Kobanî gibt es eine halbfertige Poliklinik, die das Regime nicht zu Ende gebaut hat. Hier fehlen die Geräte, aber die Ärzte gibt es. Bislang kann Blut in Kobanî nicht gelagert werden, Transfusionen gehen nur direkt von Mensch zu Mensch. Das ist extrem infektiös und gefährlich. Leukämie-Fälle und Patienten mit Bluterkankungen können nicht behandelt werden. Allein der Alltagsbedarf für eine Region mit aktuell etwa 500.000 Einwohner_innen, von denen viele aus anderen Regionen in Nord-Syrien dorthin geflohen sind, liegt auf der Hand. Hinzukommt aber die zunehmende Zahl von Kriegsverletzten, die täglich aus den Dörfern am Rande des Distrikts in die Stadt gebracht werden. Das sind Zivilist_innen, aber natürlich auch diejenigen, die versuchen die Region vor dem Zugriff durch die IS(IS)-Milizen zu beschützen. Es gibt täglich mehr Schussverletzungen und durch die besseren Waffen der Dschihadisten häuft sich auch der Granatbeschuss von Dörfern, die nicht direkt an der Frontlinie liegen.
Du arbeitest ja schon länger mit der kurdischen Bewegung in Syrien zusammen. Liest man deren eigene Pressemeldungen, hört sich das ja ziemlich toll an, was sie da aufbauen, Rätestrukturen, Frauenguerilla usw. Wie ist der Stand der Dinge in Rojava im Moment, wie geht dieser Aufbauprozess unter den Bedingungen des Kriegs voran?
Ja, die Pressemeldungen klingen natürlich immer großartig. Wer schreibt schon schlecht über sich selbst, zudem in Zeiten des Krieges und der Bedrohung? Aber die kurdische Selbstverwaltung kann auch Fehler zugeben und das ist im syrischen Krieg eher unüblich. Neulich war ein Team von Human Rights Watch in den kurdischen Regionen, um den Meldungen über Menschenrechtsverletzungen durch die kurdische Polizei nachzugehen. Deren Bericht ist insoweit lesenswert, weil man HRW nun wirklich keine prokurdische oder gar eine pro-PYD-Haltung nachsagen kann. Sie sind wohl eher sehr kritisch und misstrauisch gegenüber dem kurdischen Experiment und seiner doch klaren linkssozialistischen Ausrichtung. Das HRW-Team hat positiv hervorgehoben, dass es alle Polizeizellen und Gefängnisse besuchen und mit vielen Gefangenen sprechen konnte. HRW dokumentierte Fälle von Schlägen in der Haft und auch von der Verfolgung von politischen Aktivist_innen, die sich in Opposition zur PYD verstehen, sagte aber auch ganz klar, dass es seitens der kurdischen Sicherheitskräfte keinerlei Massaker oder systematischen Menschenrechtsverletzungen geben würde. Die kurdische Regionalverwaltung in Rojava kommentierte in doch bemerkenswerter Weise unlängst den Bericht.
Sie dankte HRW für den Besuch und entschuldigte sich ausdrücklich für die stattgefundenen Vergehen, die sie mit der Kriegssituation, aber auch mit der jahrzehntelangen Kultur der Gewalt und Folter im alten syrischen Regime erklärte. Tatsächlich ist das ein wichtiger Punkt, weniger um das Geschehene zu bagatellisieren, sondern vielmehr, weil der entscheidende Herausforderung für das Gelingen eines freien Rojava in seiner inneren Demokratiefähigkeit liegen wird. Oder anders: Schaffen es die Kurd_innen und die PYD als stärkste politische Partei, die als einzige Kraft auch die Waffen kontrollieren kann, dass gesellschaftliche Probleme politisch und plural im Dialog ausgetragen werden, oder dominiert am Ende nur die autoritäre Lösung von oben? Gehorchen und Kuschen war die Devise unter dem alten Regime, die alle kennen und Leid sind. Eine andere politische Kultur der Konfliktlösung zu etablieren ist nicht einfach, besonders in Zeiten der militärischen Bedrohung durch religiöse Fanatiker.
Dennoch gilt, dass die politische Landschaft von Rojava mehr umfasst als nur die PYD und es weitere kurdische, assyrische, arabische und andere Interessenvertretungen gibt, die politisch mitbestimmen wollen. Das darunter auch Positionen sind, die eher nationalistisch und konservativ sind, liegt auf der Hand. Dazu gehört auch der Einfluss der irakischen KDP von Barzani auf Gruppen der innerkurdischen Opposition. Trotzdem sind die lokalen Räte und Basisstrukturen keine ideologische Fantasie, sondern sehr reale Schritte eine neue Politik und damit auch einen anderen Politikstil zu etablieren. Und das ist auch erfolgreich. So sprechen in den Versammlungen erstmals Menschen, die vorher noch nie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gefragt wurden. Es bildet sich so etwas wie ein Bewusstsein über die Frage der Gemeingüter, die allen zur Verfügung stehen sollen.
Hinzukommt die unübersehbare Repräsentanz von Frauen in A Kurdish fighter from the Popular Protection Units shows his weapon decorated with his party's flag, as a fellow fighter looks on in Aleppo's Sheikh Maqsoud neighbourhoodtatsächlich allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie haben wirklich eine unüberhörbare Stimme und als ich letztes Jahr Qamisli (Cizîre)besuchte, war das auch spürbar. Ob nun bei der Polizei, bei der YPG, aber auch in der Verwaltung oder in den medizinischen Diensten: Überall triffst du auf extrem motivierte junge Frauen, die darauf beharren nicht nur mitzusprechen, sondern auch Entscheidungen zu treffen. Du erlebst dann Situationen, wo eine 25-jährige eher kleine Frau an einem Checkpoint einen Minibus mit Arbeitern anhält und die Männer regelrecht runterputzt, weil die zu spät gebremst und eine dumme Bemerkung gemacht hatten. Auch die formellen Frauenrechte wurden nachhaltig gestärkt. Die Vielehe wurde verboten, Frauen können sich weiterhin scheiden lassen und haben einen Rechtsanspruch. Das alte säkulare Assad-Syrien hatte im öffentlichen Leben der großen Städten zwar immer schon einen höhere Präsenz von Frauen als andere arabische Länder, aber in Rojava zeigt sich in der Frauenfrage wirklich nochmal der Einfluss der kurdischen Bewegung aus der Türkei, in der immer schon, ganz anders als im traditionalistischen Nordirak, Frauen in den Bergen kämpfen und jetzt wie selbstverständlich auch Bürgermeisterinnen und Politikerinnen werden.
Ein anderer wirklich wichtiger Punkt ist die Anerkennung der unterschiedlichen Religionen. Rojava ist eine extrem multikonfessionelle Gesellschaft. Hier leben nicht nur sunnitisch-muslimische Kurd_innen, sondern schiitische, yezidische, christlich-aramäische und orthodoxe Religionsgruppen. Sie alle zu respektieren und zu schützen in diesen Zeiten, in denen die syrische Revolution durch die aggressive Konfessionalisierung seitens des Regimes und des Dschihadismus barbarisiert wurde, ist tatsächlich ein linkes Projekt im beispielhaften Sinne. Hier leistet das politische Rojava eine wirkliche Freiheitsgarantie.
Es gibt natürlich gravierende Probleme in der Verwaltung und der Findung von pluralen Konsenslösungen. Die öffentliche Infrastruktur einer Stadt funktioniert nicht wie eine politische Versammlung. Es gibt einen großen Enthusiasmus und ideelle Bereitschaft, aber zugleich auch einen Mangel an fachlichem Wissen über die Mechanismen einer städtischen Bürokratie. Kaum ein Kurde hatte früher eine hohe verantwortliche Stelle im Staatsapparat. Die Richter, Staatsanwälte, die Lehrer, die Verwaltungsbeamten, die Ingenieure und Ölfachleute waren alle auf dem politischen Ticket der Baath-Partei. Fast alle von ihnen sind weg und diejenigen, die jetzt diesen Job versuchen auszuüben, sind politisch hochmotiviert, aber zum Teil völlig unerfahren und manchmal auch überfordert. Dennoch ist Rojava eine wirkliche Chance und die Kurd_nnen werden alles tun, um sie auch nutzen zu können.
Es sieht alles danach aus, als würde der Region eine lange Periode schwieriger Auseinandersetzungen bevorstehen. Für die Kurden aber ergibt sich gleichzeitig die Chance, im Irak und in Syrien ihre Positionen auszubauen. Was denkst du ist die Perspektive dort? Kurdischer Staat, regionale Autonomie, langdauernder Bürgerkrieg?
Die PYD und das politische Projekt Rojava hat unlängst wieder völlig eindeutig die Möglichkeit der kurdischen Eigenstaatlichkeit zurückgewiesen. Die Erklärung dafür mag Linke erstaunen, denn sie ist wirklich sehr zukünftig. Die PYD hat auch im Einklang mit der kurdischen Bewegung in der Türkei erklärt, dass die kurdische Demokratie eine Frage von Rechten und nicht von Staatsgrenzen sei. Alles andere wäre aktuell nicht nur nicht durchsetzbar, sondern würde auch keine tatsächliche Freiheitsgarantie beinhalten. Denn wer könne den garantieren, dass ein künftiger kurdischer Staat per se allen seinen Bürger_innen die demokratischen Rechte tatsächlich sichern würde? Ein kluge Frage und vielleicht auch mal ein tatsächlicher Anknüpfungspunkt für einige Bewegungslinke bei uns, die sich ja aufgrund ihrer eigenen Vorurteile mit der kurdischen Bewegung immer so unendlich schwer tun. Daher: Rojava wird, wenn es politisch überlebt, ein Teil Syriens bleiben und könnte vielleicht sogar ein beispielhafter Vorschlag für eine Dezentralisierung und damit auch Demokratisierung des alten autoritären Zentralstaats werden.
Die Lage im Irak ist dagegen schon anders. Die dortige kurdische Regionalverwaltung ist praktisch schon ein de facto Staat im Staat. Die KDP unter Barzani droht angesichts des irakischen Desasters zwar mit der Loslösung, wird das aber auch längere Zeit wohl eher nicht umsetzen. Aber das ist zugleich völlig offen. Wenn die USA letztlich durch ihre korrupten Protegés in Bagdad ein sunnitisches ISIS-Kalifat im Irak quasi „zulassen“, deren Milizen aktuell die Siedlungsgebiete der yezidischen Kurd_innen in Shingal auf halber Strecke zwischen Mosul und der syrischen Grenze angreifen und Zigtausende in die Flucht treiben, dann könnte es am Ende auch noch so kommen, dass Irakisch-Kurdistan sich schneller aus der Autonomie verabschiedet, als es den USA und der Türkei das lieb wäre. Auf jeden Fall wird die kurdische Regionalverwaltung unter der Familie Barzani noch mehr Macht und Befugnisse an sich ziehen und versuchen innerhalb des irakischen Staatszerfalls ihre Position auszubauen.
Syrien wird eine große Tragödie bleiben. Das Regime ist militärisch konsolidiert, Assad hat sich wiedergewählt und durch den Aufstieg von ISIS und deren Kalifatsterror eine neue perfide Legitimation gewonnen. Jetzt scheint wahr zu werden, was Assad von Anfang an als böse Propagandawaffe zur Diffamierung der syrischen Revolutionäre eingesetzt hat: Entweder ich und ihr kennt mich, oder der bärtige Islamist, der den Leuten die Köpfe abschlägt. ISIS hat lange Zeit in erster Linie gegen FSA-Gruppen gekämpft und das Regime hat die FSA bombardiert, die Hauptquartiere der Dschihadisten aber kaum behelligt. Das ändert sich erst jetzt ein wenig. Die FSA wurde an vielen Orten zerrieben, viele ihrer Kämpfer haben erschöpft aufgegeben oder sind zu den radikalreligiösen Gruppen gewechselt. Mittlerweile haben die zivilen Aktivist_innen fast mehr Angst vor den Dschihadisten, als vor dem Regime. Einer hat neulich mal gesagt: Nicht Assad hat die Revolution geschlagen, sondern ISIS hat uns möglicherweise besiegen können. Das ist wirklich unendlich bitter. Der Krieg in Syrien wird also weitergehen. Vielleicht noch auf Jahre. Alle regionalen und internationalen Einflussmächte können offenbar mit diesem Zustand gut leben. Bis auf die Syrer_innen selbst, die nach wie vor täglich sterben.
Aber ein gemeinsames Syrien gibt es schon lange nicht mehr. Es gibt das Syrien an der Küste, in dem der alte Staat unangefochten weiter regiert, es gibt die rebellischen Stadtviertel am Rande der urbanen Zentren Homs, Hama und Damaskus, in denen das Regime beginnt die endgültige Kontrolle zurückzugewinnen. Es gibt Aleppo als eine noch geteilte Stadt, die aber möglicherweise auch zurückerobert wird, es gibt unzählige Dörfer und Regionen im Süden an der jordanischen Grenze und im Osten in Richtung Irak, in denen das Regime seit Jahren nicht mehr präsent ist und in denen sich eine Not- und Flüchtlingsgesellschaft etabliert hat, die immer wieder aus der Luft bombardiert wird. Nicht überall regieren islamistische Scharia-Gerichte, aber überall gibt es eine große Depression über eine monströse Gewalt, die eine ganze Gesellschaft in den Abgrund gerissen hat. Und trotzdem gibt es lokale Komitees und zivile Aktivist_nnen, die versuchen solidarisch zu sein und den Menschen zu helfen. Sie dokumentieren die Menschenrechtsverletzungen der unzähligen bewaffneten Gruppen, geben kleine Zeitungen heraus, leisten Nothilfe und versuchen sich in alternativer Landwirtschaft oder kommunaler Selbstverwaltung. Sie alle hatten seit dem Beginn der Revolution nie die gleiche Chance auf Entwicklung, die dem politischen Rojava durch den Rückzug des syrischen Regimes glücklicherweise in die Hände fiel. Niemals duldete Assad etwa in Homs oder Damaskus ein oppositionelles Kultur- oder Medienzentrum, sofort wurde verhaftet oder geschossen.
Natürlich war die Militarisierung der syrischen Revolution vielleicht der größte aller Fehler, aber wem will man vorwerfen, dass er sich nicht freiwillig auf einer Demonstration erschießen lassen wollte? Das sollten alle Linken nicht vergessen, wenn sie jetzt zu Recht mit Rojava solidarisch sind. Jeder Ort, jeder Augenblick hat seine Besonderheit. Ohne die Aufstände in Darʿā, in Homs und Damaskus, ohne die Wucht der ersten Demonstrationen und die sich ausbreitende Stimmung der allgemeinen Rebellion in den zentralsyrischen Städten, wäre das Regime niemals gezwungen gewesen sich auf seine Kerngebiete zu konzentrieren. Linke Solidarität mit Rojava sollte daher ausdrücklich auch den Respekt vor dem historischen Mut all jener einschließen, die überall in Syrien die zentralen Botschaften des arabischen Freiheitswindes auch für sich beanspruchten: Brot, Freiheit und Würde.
# Spenden und Infos über Rojava und die Arbeit von medico in Syrien unter www.medico.de Dort kann auch der Rojava-Aufruf „Unterstützung für ein demokratisches Experiment“ kostenlos bestellt werden, den medico zusammen mit Civaka Azad, dem kurdischen Informationszentrum in Deutschland, im Frühsommer dieses Jahres veröffentlichte.
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