STAAT KRIMINALISIERT ANTIFASCHIST*INNEN Hartz IV-Empfänger soll über 6000€ zahlen – Solidarität nötig
Am Mittwoch, den 24. Mai 2017, wurde ein Antifaschist und Aktivist der Aachener linksjugend [’solid]-Gruppe vor dem Kölner Landgericht verurteilt. Das Gericht bestätigte damit im Wesentlichen ein Urteil des Kölner Amtsgerichts aus dem Oktober 2016, gegen das der Betroffene widersprochen hatte. Dieses folgte weitgehend den Anträgen der Staatsanwaltschaft und zweier Polizisten, die als Nebenkläger aufgetreten waren. Begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit wurden außer Acht gelassen. Wir haben unseren Genossen in der juristischen Auseinandersetzung unterstützt und werden auch darum kämpfen, die Strafe und weitere Kosten kollektiv zu tragen. Das Urteil und das ganze Verfahren zeigt: Der Staat ist nicht nur kein Verbündeter im Kampf gegen Rechts, er behindert aktiv antifaschistisches Engagement und geht mit aller Härte gegen Antifaschist*innen vor. Um so dringender gilt: Unsere Solidarität gilt dem betroffenen Genossen.
WAS WAR GESCHEHEN?
Am 26. Oktober 2014 marschierten mehrere tausend Neonazis und rechte Hooligans in Köln auf. Sie nannten sich „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa), zeigten dabei aber schnell, dass sie ein übler Haufen von Neonazis waren, die in ihrer Ideologie mit Salafisten und ähnlichen Reaktionären sehr viel gemein haben. Am Ende gab es Randale, mehrmals wurde versucht, Gegendemonstrant*innen anzugreifen. Offiziell wurden an dem Tag 59 Polizist*innen verletzt, mehrere Polizeifahrzeuge beschädigt, eines umgeschmissen.
Der Staat wusste über das Aggressions- und Mobilisierungspotenzial von HoGeSa bestens Bescheid (bezahlt er doch nicht wenige von ihnen als „Spitzel“ des Verfassungsschutzes). Trotzdem schickte er eine Untermacht an Polizist*innen.
Ein Jahr später, am 25. Oktober 2015, wollte HoGeSa in Köln ein Comeback feiern. Antifaschist*innen riefen zu Massenprotesten und Blockaden auf. Unter diesem Druck verhängten Gerichte ein Demonstrationsverbot für die Neonazis, erlaubten ihnen aber eine Standkundgebung. An den Protesten gegen HoGeSa beteiligten sich 15.000 Menschen, tausende von ihnen an Blockaden. Zu HoGeSa kamen etwa 1000.
POLIZEIGEWALT BEI PROTESTEN GEGEN HOGESA
Bei diesen Protesten hat die Polizei vereinzelte Auseinandersetzungen (die auch nicht alle von Antifaschist*innen ausgingen – oft blockierten diese Bahnsteige, und Neonazis versuchten sich gewalttätig einen Weg zu bahnen) als Anlass genommen, die Proteste als Ganzes zu kriminalisieren. Die Kundgebungen und Blockaden wurden abgefilmt, was einzelne Antifaschist*innen zum Anlass nahmen, sich zu vermummen, um ihre Identität zu schützen. Das wiederum nahm die Polizei zum Anlass, wiederholt unsere Aktionen anzugreifen. Das ging so weit, dass sogar mit Wasserwerfern in die Menge geschossen wurde. Entsprechend aufgeheizt war die Stimmung.
Die Neonazis standen sich abseits jeder Öffentlichkeit die Beine in den Bauch und gaben schließlich verfrüht auf. Das wurde mit einer großen antifaschistischen Demo zum Kölner Hauptbahnhof gefeiert. Auch hier ließ die Polizei nicht von ihren ständigen Provokationen ab. Am Hauptbahnhof angekommen wollten wir eigentlich nur noch auf unsere Züge warten, doch die bisherige Bilanz reichte der Polizei offenbar noch nicht. So wurden immer wieder Wartende eingekesselt, angegriffen und mehrere Antifaschist*innen teils mit massiver Gewaltanwendung herausgezogen.
Trotzdem werten wir die Proteste gegen HoGeSa als Erfolg: Wir waren 15 mal so viele wie die Neonazis, sie haben kaum Öffentlichkeit bekommen. Hätte die Polizei sich herausgehalten, hätten die Neonazis wahrscheinlich nichts durchführen können. Hätte die Polizei nicht nach Kräften provoziert, hätte es kaum oder keine Festnahmen gegeben. Wieder einmal hat die Polizei gezeigt, dass sie größtes Interesse daran hat, aktiven Antifaschismus zu behindern. Damit spielen sie Neonazis in die Hände.
VERHAFTUNG WEGEN EINEM ANGEBLICHEN MITTELFINGER
Betroffen von den Übergriffen am Hauptbahnhof war auch ein Genosse der Aachener linksjugend [’solid]-Gruppe. Ohne erkennbaren Grund stürmte eine Gruppe Polizist*innen vor und zerrte unseren Genossen aus einer Gruppe heraus. Der Rest der Menge wurde nach hinten geprügelt. Unser Genosse wurde von mehreren voll ausgerüsteten Polizisten auf dem Boden fixiert. Erst später hat er den Vorwand für diese Festnahme erfahren: Er soll einen Polizisten beleidigt haben, indem er einen Mittelfinger hob.
An einem Tag, wo die Polizei Tausende durch Abfilmerei eingeschüchtert hatte, Hunderte mit Wasserwerfern, Pfefferspray, Schlagstöcken, Tritten oder Schlägen traktiert hatte, Dutzende mit Schimpfworten beleidigt hat, soll dieser Mittelfinger unangemessen gewesen sein.
Auch juristisch ist dieser Vorwurf nicht haltbar, denn aus dem Protest heraus wurden mehrere Mittelfinger gezeigt. Bei der erlebten Polizeigewalt an diesem Tag ist das nur zu verständlich – hier ging es nicht um die individuelle Beleidigung von Polizist*innen, sondern um das Agieren der Polizei gegen Antifaschist*innen. Das wurde durch Parolen unterstrichen. Selbst wenn unser Genosse tatsächlich diesen Mittelfinger gezeigt hätte, ging es nicht um eine Beleidigung, sondern um einen Ausdruck der Ablehnung von Staatsgewalt.
WIE DIE POLIZEI KOMMUNIZIERT HABEN WILL
Im Prozess behauptete einer der Polizisten, unseren Genossen „angesprochen“ zu haben. Er hätte wegen der „Beleidigung“ seine Personalien aufnehmen wollen. Die Polizei behauptet öffentlich gerne, „verhältnismäßig“ zu agieren. Ist es „verhältnismäßig“, wegen einem erhobenen Mittelfinger mit einer Gruppe Vermummter mit gezücktem Schlagstock auf Menschen loszurennen, die den ganzen Tag bereits Polizeigewalt erlebt haben? Hätte man „nur“ seine Personalien feststellen wollen, wäre man ruhig zu ihm gegangen. Eine Ansprache war aber gar nicht möglich: Es war dauerhaft lautes Geschrei.
Stattdessen wurde die gewalttätige Eskalation herbeigeführt. Der Pulk Polizist*innen in Kampfmontur ist auf die Gruppe Antifaschist*innen losgestürmt, unser Genosse wurde sofort nach hinten und zu Boden gerissen, andere Antifaschist*innen weggeknüppelt, -geschlagen und -getreten.
Im Verlauf des Prozesses verwickelte sich die Klägerseite dann auch in Widersprüche, behauptete, es hätte vielleicht keine Ansprache gegeben, aber eine „nonverbale“ Kommunikation stattgefunden. Für den Richter gab das keinen Anlass, die Glaubhaftigkeit der Polizisten anzuzweifeln – Cops wird vor Gericht einfach geglaubt. Selbst die UNO kritisiert Deutschland für ihren laxen Umgang mit Polizeigewalt.
GEWALTVORWURF WIRD UMGEKEHRT
Bei seiner Festnahme hat unser Genosse Panik bekommen und hat daher mit Armen und Beinen um sich gerudert. Angeblich soll ein Polizist dabei einen blauen Fleck abbekommen haben, einem anderen soll eine Sehne am kleinen Finger gerissen sein. Da er die Festnahme weiter durchführen konnte, bezweifeln wir, dass die Verletzung tatsächlich dabei passiert ist – wo ist der Beweis, dass dies bei der Festnahme unseres Genossen und nicht beim Verprügeln von Antifaschist*innen oder irgendwann später passiert ist?
Einer der Polizisten hat sich etwa sechs Wochen krankschreiben lassen, bis heute ist die Bewegungsfähigkeit seines kleinen Fingers angeblich eingeschränkt.
EXTREMES STRAFMASS – SOLIDARITÄT NÖTIG
Die Staatsanwaltschaft forderte eine Strafe von 160 Tagessätzen wegen Beleidigung, Widerstand gegen Staatsgewalt und gefährlicher Körperverletzung. Die beiden angeblich „geschädigten“ Polizisten forderten außerdem Schmerzensgeld und Schadensersatz (auf Grund entgangener Überstundengelder während des Krankenstandes) in Höhe von 4000 Euro.
Der Richter verurteilte unseren Genossen in erster Instanz zu einer Strafe von 100 Tagessätzen sowie den etwa 4000€ für die beiden Polizisten, in der zweiten Verhandlung wurde die Strafe auf 80 Tagessätze reduziert. Darüberhinaus muss er die Prozesskosten und die Anwaltskosten der beiden Nebenkläger zahlen. Er ist Hartz IV-Empfänger und muss einen Tagessatz von 10€ zahlen. Inklusive der Kosten für seinen eigenen Anwalt macht das Kosten von über 6000€. Wie ein Hartz IV-Empfänger das jemals abstottern soll (zumal Zinsen aufgeschlagen werden) bleibt offen.
ANTIFASCHIST*INNEN WERDEN KRIMINALISIERT
Bei jeder Antifa-Demo taucht eine Übermacht an Polizei auf. Oft werden solche Demos im Spalier eingekesselt. Der Gesellschaft wird so vermittelt es handele sich um gefährliche Gewalttäter*innen.
Anders dagegen bei Naziaufmärschen und -Aktivitäten, und das trotz einer Bilanz von mindestens 179 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990 – darunter Migrant*innen, Linke und auch einige Polizist*innen. Insbesondere seit HoGeSa, PEGIDA und anderen großen rechten Mobilisierungen sind die Zahlen rechter Übergriffe und Anschläge dramatisch in die Höhe geschossen. Ist man freundlich gewillt, könnte man den Polizeioberen unterstellen, sie würden die Gefahr, die von Neonazis ausgeht, unterschätzen. Oder aber man könnte meinen, sie würden den Faschist*innen bei ihrem Terror gegen Migrant*innen und Linke bewusst freie Hand lassen.
So gibt es dokumentierte Fälle, wo Polizeibeamte, die konsequent gegen Rechts vorgingen, zwangsversetzt wurden.
NEONAZIS KONSEQUENT ENTGEGENTRETEN
Wo Neonazis auftauchen, ist Gewalt gegen Migrant*innen, Jüdinnen*Juden, Muslima*Muslime, Frauenrechtler*innen, LGBTIQ*, Linke und alle anderen, die nicht in das begrenzte Weltbild der Faschist*innen passen, nicht weit. Denn Terror ist ihr Programm. Wir bekämpfen Faschist*innen durch Massenaktionen, machen ihnen durch Blockaden die Straßen streitig und rufen zur Solidarität aller Betroffenen und im Kapitalismus Benachteiligten auf.
Wir bekämpfen rechte Tendenzen, indem wir die Verantwortlichen für Probleme wie Arbeitslosigkeit, Wohnraummangel und die vielen anderen Probleme, die der Kapitalismus schafft, benennen und bekämpfen: Banken, Konzerne, ihre Politiker*innen und ihr System.
ALTERNATIVEN BENENNEN
Vor allem schaffen wir positive Anknüpfungspunkte für wütende Menschen, die auf der Suche nach Alternativen sind. Unsere Alternative heißt Widerstand gegen jede Verschlechterung, aktiver Kampf für demokratischer Rechte, Jobs, Wohnraum, Soziales, gleiche Rechte für Alle. Deswegen organisieren wir Klassenkampf mit dem Ziel, den Kapitalismus zu überwinden und eine sozialistische Welt aufzubauen, die in der Lage sein wird, die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen.
SOLIDARITÄT MIT ALLEN ANTIFASCHIST*INNEN
Andere Antifaschist*innen haben andere Herangehensweisen. Wir sind solidarisch mit allen, die Neonazis auf ihre Weise bekämpfen. Dabei verurteilen wir physische Gewalt nicht, weil sie das erklärte Ziel verfolgt, das Erstarken und damit kommende Gewalt von Neonazis zu verhindern. Würde der Staat, wie er gerne behauptet, Neonazi-Aktivitäten konsequent bekämpfen und die „volle Härte des Rechtsstaats“ gegen sie walten lassen, wäre es nicht nötig. Die Realität sieht jedoch anders aus. So ist antifaschistischer Selbstschutz nötig, und wir sind solidarisch mit allen, die antifaschistischen Selbstschutz, auch präventiv, gestalten. Gleichzeitig rufen wir alle Genoss*innen auf, sehr genau zu schauen, wann welche Aktion angemessen ist, ob sie kommunizierbar ist und wen sie – möglicherweise gegen deren Willen – einbezieht.
linksjugend [’solid] Aachen, 8. August 2017
Quellen:
Krawall-Bilanz von HoGeSa 2014: hier
Mindestens 179 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990: hier
Polizeibeamte werden zwangsversetzt: hier
Zahlen zu rechten Übergriffen seit HoGeSa und PEGIDA: hier
Bilanz HoGeSa 2015: hier
Artikel zum Umgang Deustchlands mit Polizeigewalt: hier
* Wir wollen mit dem Sternchen darauf hinweisen, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt und noch viele weitere gefühlte Geschlechter (gender) hinzukommen.
* LGBTIQ: Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Inter-sexuelle, Queere Personen.
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