Berlin/Neukölln: Don´t you let the (Neukölln) Komplex get you down!
<strong>Don´t you let the (Neukölln) Komplex get you down!</strong>
Aufruf der Autonomen Neuköllner Antifa zu der antifaschistischen Demonstration "Fight Back! - Rechten Terror bekämpfen!" am 21. November 2020.
Seit Jahren überziehen militante Neonazis Neukölln wellenartig mit Angriffen gegen zivilgesellschaftliche Aktive und Antifaschist:innen. Hinzu kommen die rassistischen Morde an Burak Bektaş im Jahr 2012 und drei Jahre später an Luke Holland. Nachdem im August 2009 die Scheiben der Chile-Freundschaftsgesellschaft in Neukölln das erste Mal eingeworfen worden waren, folgten ähnliche Aktionen gegen linke Projekte auch in Kreuzberg und darüber hinaus, Schwerpunkt blieb aber weiterhin Neukölln. Eine auffällige Häufung von neonazistischen Anschlägen gab es seitdem auch rund um die Britzer Hufeisensiedlung. Nachdem eine Familie im Wahlkampf 2011 der Propaganda von NPD-Verteiler:innen eine Absage erteilt hatte, wurde sie in ihrem Haus über Jahre regelrecht terrorisiert. Auch andere waren gleich mehrmals betroffen. Im gleichen Jahr wurde das Anton-Schmaus-Haus, eine Jugendeinrichtung der “Falken” in Britz, gleich zwei Mal durch Brandanschläge weitgehend zerstört. Im Oktober 2016 zündeten Neonazis schließlich das Privatauto der Geschäftsführerin der Neuköllner “Falken” an.
<strong>Vom Mob auf den Straßen und Brandstiftern in den Parlamenten – Nazihochburg in Westberlin</strong>
Der Jugendverband “Falken” als erkennbar linke Struktur im Süden des Bezirks, war den Neuköllner Neonazis schon lange davor ein Dorn im Auge. Bereits in den 1970er Jahren berichten Mitglieder der “Falken” von rechten Bedrohungen und gewalttätigen Angriffen an Neuköllner Schulen.
Im Jahr 1991 brannte der Bus der Jugendorganisation in Neukölln. Der damalige Brandstifter Carsten Szczepanski sollte Antifaschist:innen später als NSU-Unterstützer und V-Mann “Piatto” bekannt werden. Die Gewalt der Neuköllner “Baseballschlägerjahre” traf Linke und alternative Jugendliche, war aber vor allem auch rassistisch motiviert. In den 1980er Jahren dokumentierten antifaschistische Chroniken regelmäßig Hetzjagden durch Neonazi-Skinheads entlang der den Bezirk durchziehenden U-Bahn-Linie 7. Als sich Anfang der 1990er Jahre überall in Deutschland der Einheitsnationalismus brandschatzend Bahn brach, griff auch im Neuköllner Ortsteil Buckow ein Neonazi-Mob unter der Führung der später verbotenen FAP eine Geflüchtetenunterkunft an. Mit Schützenhilfe aus der Kommunalpolitik konnten die militanten Rassist:innen in dieser Zeit durch die “Republikaner” rechnen, die nicht nur in die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung einzogen, sondern von 1992 bis 1994 sogar einen Stadtrat im Bezirksamt stellten.
<strong>Organisierte Gewalt und ein Currywurst-Imbiss – Südneuköllner Nazistrukturen in den 2000er Jahren</strong>
Bis sich schließlich ein eigenständiger Neuköllner Kreisverband der NPD gründete, vergingen zehn Jahre. Große Überschneidungen hatte die Neuköllner NPD von Beginn an mit den Kameradschaftsstrukturen, die sich zeitgleich formierten. Sie verfolgten das Ziel, eine schwarz-weiß-rote Angstzone im Süden Neuköllns zu errichten. Ausgangspunkt dafür war ein Currywurst-Imbiss auf der Verkehrsinsel der zentralen Kreuzung am U-Bahnhof Rudow, besser bekannt als Rudower Spinne. Im April 2003 betrank sich eine Gruppe Neuköllner Neonazis beim Volksfest “Britzer Baumblüte”, bevor sie anschließend in Rudow migrantisierte Jugendliche mit Bierflaschen und Baseballschlägern attackierten. Mit dabei war damals schon Tilo Paulenz, einer der Hauptverdächtigen der aktuellen Angriffe. Im August 2005 überfielen 40 “Autonome Nationalisten” ein zivilgesellschaftliches Straßenfest an der Rudower Spinne. Als drei Jahre später Neonazis dort einen antifaschistischen Infostand angriffen, legte Sebastian Thom, ein weiterer Hauptverdächtiger für aktuelle Anschläge, mit Pyrostift ausgestattet den Grundstein für sein Vorstrafenregister. Zum Neuköllner Neonazi-Nachwuchs zählte zu dieser Zeit Julian Beyer, der das zuerst von Antifaschist:innen benannte Verdächtigentrio komplettiert. Einige bekannte Neuköllner Neonazis organisierten sich im “Nationalen Widerstand Berlin” (NW-Berlin). Die von ihnen mit Unterstützung aus Treptow initiierten Aufmärsche für ein “Nationales Jugendzentrum” mussten nach wenigen Jahren in den Osten der Stadt ausweichen und scheiterten schlussendlich an den antifaschistischen Gegenprotesten.
<strong>Das Wesentliche nicht aus dem Blick verlieren – Neonazi-Kader, wo sind sie geblieben?</strong>
Auch wenn es paradox klingen mag, öffentlich sichtbare Neonazistrukturen gehören in Neukölln mittlerweile der Vergangenheit an. Die Szene im Bezirk ist bis auf wenige Ausnahmen auf einen Kern langjährig bekannter Akteur:innen zurückgeworfen. Das ist auch ein Erfolg antifaschistischer Gegenwehr. Dass sich Neonazis in Neukölln weitestgehend auf anonyme Aktionen im Schutz der Nacht verlegt haben, macht sie aber nicht weniger gefährlich. Zu Recht stehen in der öffentlichen Debatte zuletzt häufig die Verbindungen zwischen Nazis und Polizei im Fokus. Dabei dürfen Antifaschist:innen jedoch nicht den Blick auf den Hauptschauplatz verlieren. Viele Neuköllner Neonazis bewegen sich unter dem Radar der Aufmerksamkeit. Es besteht kein Anlass zu glauben, sie hätten ihr menschenverachtendes Handwerk an den Nagel gehängt. Zuletzt tauchte bei den “Anti-Corona-Protesten” in Mitte Oliver Werner wieder auf. Welche Rolle spielt der “politische Ziehvater” von Sebastian Thom für die Neuköllner Neonazis heute? Was machen andere gewalttätige Neuköllner Neonazis im Jahr 2020? Noch 2014 war etwa Timo Lennig gemeinsam mit Tilo Paulenz dabei, als Hooligans und Neonazis linke Fußballfans in Rudow angriffen. Auch der Verbleib von Jill-Pierre Glaser, wichtiger Organisator von Kameradschaftsstrukturen in Südneukölln, bleibt unklar.
Es gibt also genug Fragen, denen Antifaschist:innen in Neukölln nachgehen können. Sich das Wissen aus der Vergangenheit zu Nutze zu machen, kann auch im Hier und Jetzt in die Offensive führen.
<strong>Recherche, Analyse, Aktion – Kontinuitäten fokussieren, benennen und bekämpfen heißt, den Akteur:innen auf die Pelle zu rücken!
Fight Back – Rechten Terror bekämpfen! Antifaschistischen Demo durch Südneukölln | 21.11.2020 | 18:00 Uhr | Gedenkort für Burak Bektaş</strong>