Contagio / Ansteckung

Event Datum: 
Dienstag, März 17, 2020 - 18:00
Stadt/Region: 
Kommentar zu der sogenannten Coronavirus-Epidemie in Italien von Giorgio Agamben. Erschienen auf Quodlibet am 11. März 2020. Von UTOPIA TEATRO übersetzt. https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-contagio

Ansteckung

Der Giftsalber! Gib ihm! Gib ihm! Gib ihm dem Giftsalber!
Alessandro Manzoni, I promessi sposi [die Verlobten]

Eine der unmenschlichsten Folgen der Panik, die man mit allen Mitteln anlässlich der sogenannten Coronavirusepidemie in Italien zu verbreiten versucht, steckt in derselben Idee von Ansteckung, die den von der Regierung adoptierten Notmaßnahmen zu Grunde liegt. Diese Idee, die der Hippokratischen Medizin fremd war, findet ihren ersten unbewussten Vorreiter während der Pestilenzen, die zwischen 1500 und 1600 manche Städte Italiens verwüsteten. Es handelt sich um die Figur des Giftsalbers, die von Manzoni sowohl in seinem Roman [Die Verlobten] als auch in dem Essay Geschichte der Schandsäule verewigt wurde. Eine mailändische Flugschrift von 1576 beschreibt sie wie folgt und ruft die Bürger auf, sie zu denunzieren:

«Da unser Gouverneur die Kunde bekam, dass einige Personen mit schwachem Mitgefühlsschimmer, und um dem Volk und den Bewohnern dieser Stadt Angst und Schrecken einzujagen, um sie zu manchem Aufstand zu treiben, mit Flüssigkeiten, die sie als pest und ansteckend bezeichnen, Türen und Riegel der Häuser und Straßenecken der besagten Stadt einschmieren gehen und andere Orte dieses Staates, unter dem Vorwand die Pest an den Privaten und Öffentlichen zu tragen, woraus manche Unannehmlichkeiten entstehen und nicht wenig Aufregung unter den Menschen, vor allem unter jenen, die für solchen Glauben besonders empfindlich sind, äußert er sich [der Gouverneur] also folgendermaßen, dass er jeder Person von jeglichem Rang, Status, Grad oder Stand, die in den folgenden vierzig Tagen jene klarstellen wird, die solche Insolenz begünstigt, unterstützt oder auch nur gewusst haben, fünfzig Scudi erteilen wird...»

Mit den angemessenen Unterscheidungen, verwandeln die jüngsten Vorschriften (die von der Regierung mit Verordnungen getroffen wurden, von denen man hoffen möchte – was eine Illusion bleibt – dass sie vom Parlament nicht im vorgesehenen Zeitrahmen als Gesetze verabschiedet werden) jedes Individuum in einen potenziellen Giftsalber, genauso wie jene über den Terrorismus faktisch und juridisch jeden Bürger als möglichen Terroristen erfassten. Die Ähnlichkeit ist so klar, dass der potenzielle Giftsalber, der sich nicht an die Vorschriften hält, mit einer Gefängnisstrafe gezüchtigt wird. Besonders verhasst ist die Figur des gesunden oder vorzeitigen Virusträgers, der eine Mehrheit an Individuen ansteckt, ohne dass man sich vor ihm schützen könnte, wie man es vor dem Giftsalber tat.

Noch beklagenswerter als die von den Anordnungen implizierten Freiheitseindämmungen ist, meiner Meinung nach, die Degenerierung des Umgangs zwischen Menschen, die sie mit sich führen können. Wir dürfen uns dem Gegenüber, wer immer sie oder er sei, sogar eine uns teure Person, weder annähern noch dürfen wir sie berühren, sondern wird es von uns verlangt eine Entfernung zwischen uns zu respektieren, die nach den einen nur einen Meter und nach anderen, jüngeren Empfehlungen der sogenannten Experten 4,5 Meter betragen sollte (interessant sind diese fünfzig Zentimeter!). Unser Gegenüber wurde de facto abgeschafft. Es ist möglich, angesichts der ethischen Inkonsistenz unserer Regierenden, dass diese Maßnahmen in dem, der sie verabschiedet hat, von derselben Angst diktiert worden sind, die solche Regeln auslösen wollen. Trotzdem ist es schwierig, nicht daran zu denken, dass die Situation, die aus ihnen ausgeht, genau jene ist, die unsere Regierenden bereits des Öfteren zu verwirklichen versucht haben: dass man endlich die Universitäten und Schulen schließt und den Unterricht nur online macht, dass man endlich damit aufhört, sich aus politischen oder kulturellen Gründen zu treffen und zu sprechen, und dass man sich ausschließlich digitale Nachrichten austauscht; dass, wo immer es auch möglich ist, Maschinen jeglichen Kontakt – jegliche Ansteckung – zwischen Menschen ersetzen.

webadresse: 
https://www.quodlibet.it
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen