EU-Wahlen und die Illusion eines vereinten Europa – Wie sieht eine internationalistische Gegenposition aus?
Trotz seiner weitgehenden Kompetenzlosigkeit (es kann weder Gesetze einbringen noch beschließen), steht das Europaparlament als ideologische Projektionsfläche und materielle Versorgungsanstalt für bürgerliche Politiker aller Couleur hoch im Kurs. Mit dem Interesse des Wahlvolkes sieht es nicht so aus. Beteiligten sich bei der ersten Wahl 1979 noch knapp zwei Drittel, waren es 2014 nur noch gut 40 Prozent. Mit großem Werbeaufwand wird deshalb die Europawahl zur Schicksalswahl erklärt. Es ist eine erprobte Methode, das Wahlvolk zu mobilisieren, indem man ihm Entscheidungsfähigkeit in wichtigen Fragen suggeriert.
Der linke Wahlzirkus
Schon Monate vor der Wahl brachte sich die Linkspartei in Stellung. Gregor Gysi - seines Zeichens Vorsitzender des Zusammenschlusses europäischer Linksparteien - erklärte, dass die Wählerinnen und Wähler „nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Verantwortung“ wahrnehmen müssen, die EU nicht den Rechten zu überlassen. (ND v. 19.2.) Und nachdem auf dem Linken-Parteitag Ende Februar 2019 die all zu scharf formulierten Kritiken an einer militaristischen und neoliberalen EU im Wahlprogramm getilgt und durch einen positiven Bezug auf eine gemeinsame europäische „Wertebasis“ von „Rechts- und Sozialstaatlichkeit“ ergänzt worden waren, konnte ihr Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch erklären: „Wenn die Rechte derzeit die bürgerliche Demokratie angreift, dann werden wir zu Verteidigern der bürgerlichen Demokratie.“ (ND v. 25.2.). Diese antifaschistische Demagogie vertrat am deutlichsten die reformistische Zeitschrift OXI, die der Bewegung DiEM25 und ihrem Europawahl-Kandidaten Yanis Varoufakis (bekannt noch als kurzzeitiger Wirtschaftsminister der griechischen Linksregierung) nahe steht: „Und nicht zum ersten Mal sind Kritikerinnen der EU in dieser Situation dazu verdammt, den erreichten Stand der Integration dennoch zu verteidigen, der zwar auch als Teil des Problems wirkt, zugleich aber auch ein Bollwerk gegen den Rückfall in politische Zustände ist, in denen über linke Alternativen gar nicht mehr öffentlich diskutiert werden kann.“ (OXI 2/19) Die bürgerliche Linke bringt sich hier als Retter ideologischer Seifenblasen in Stellung, indem sie eine politische Wirkungsmächtigkeit bemüht, die den kapitalistischen Zersetzungs- und imperialistischen Formierungsprozess der EU allenfalls begleiten (und demokratisch kaschieren!) kann. Spiegelverkehrte EU-Projektionen liefern uns die pseudo-kommunistischen Kritiker von der DKP über die maoistische MLPD bis zur trotzkistischen PSG, die sich an der Europawahl beteiligen, um die EU „zu überwinden“, gegen sie zu „rebellieren“ bzw. sie durch die „Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa“ zu ersetzen.
Die imperialistische Realität
Aller Regierungspropaganda von der Intensivierung der europäischen Integration und dem Rettungsanker eines „Kerneuropa“ zum Trotz, nehmen die Differenzen zu. Es ist nicht nur die Renaissance des Nationalismus und Partikularismus an den Rändern, sondern es sind die Widersprüche zwischen den imperialistischen europäischen Hauptmächten die unter dem Druck der ökonomischen und sozialen Verwerfungen zunehmen. Dabei geht es nicht nur um Großbritannien und den Brexit, oder das diplomatische Geplänkel zwischen Italien und Frankreich. Es geht um den Kern: Während Deutschland seine ökonomische Führungsrolle als Gralshüter „solider Staatsfinanzen“ ausspielt und auf eine Erweiterung seines politischen Einflusses schielt, versucht Frankreich mit Regulationsforderungen (EU-Mindestlohn, EU-Finanzminister und EU-Haushalt) den deutschen Exportnationalismus in die Schranken zu weisen und gleichzeitig seine traditionelle politische und militärische Sonderstellung zu behalten (Sitz im Sicherheitsrat und Atomwaffen).
Setzt die ökonomische Konkurrenz der innerimperialistischen Kooperation enge Grenzen, sind diese allerdings im politisch-repressiven Bereich weniger eng (von der polizeilichen und geheimdienstlichen Kooperation bis zum sog. „Schutz der Außengrenzen“). Schon 1979 schrieben wir im Kommunistischen Programm Nr. 23: „Die jüngsten Erfahrungen haben nur bestätigt, dass es den Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft nur mit Schwierigkeiten gelingt, im Bereich der Agrar- Industrie- und Energiepolitik Kompromisse zu erzielen, dass sie sich aber sofort in trauter Eintracht befinden, wenn es darum geht, ein gemeinsames Programm für 'den Kampf gegen den Terrorismus' zu erstellen, das weniger die Gefahr der heutigen individuellen Gewalt als vielmehr die Gefahren der zukünftigen proletarischen Klassengewalt im Auge hat.“
Die Europäische Union ist nichts anderes als ein imperialistisches Zweckbündnis gegen die übermächtige Konkurrenz aus Übersee, zur gemeinsamen Antikrisenpolitik und nicht zuletzt gegen den potentiellen proletarischen Klassenkampf und soziale Unruhen (siehe z.B. Frankreich wo sowohl repressiv als auch sozialstaatlich gegen die Volksbewegung der Gelbwesten vorgegangen und in diesem Zusammenhang von der EU die „Maastricht-Kriterien“ flexibel ausgelegt wurden). Ein Zweckbündnis, das allerdings durch seine eigene Dynamik immer wieder unterminiert wird. Während des ersten imperialistischen Neuverteilungskrieges 1915 schrieb Lenin, dass „die Vereinigten Staaten von Europa unter den kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ sind, und führte aus: „Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wiederherzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik. Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten...worüber? Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte.“
Die europäischen Illusionen
Aus dem berechtigten Interesse, sich vom widerwärtigen Nationalismus und der Renaissance von Nationalstaats- und Volksgemeinschaftsideologie, die sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Linken zeigt, abzugrenzen, existiert bei vielen sich als „Links“ verstehenden Menschen eine Sympathie für die Europäische Union. (Die unbegrenzte Reisefreiheit der Generation easyjet ist sicherlich ein Privileg, das auch den Horizont erweitern kann - allerdings nicht funktioniert, wenn man nicht den richtigen Pass hat...)
Der Grundirrtum dabei ist allerdings, dass die EU nicht ein neuer supranationaler Friedensstaat ist und auch nicht sein kann. Ihr Kernstück sind mit dem freien Warenverkehr, dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr genauso wie mit der Dienstleistungsfreiheit und der Personenfreizügigkeit die Interessen des Kapitals. Wie wir in unserem umfangreichen Artikel über den „Geist der Europäischen Einheit“ schreiben (der derzeit leider nur auf italienisch und englisch in the internationalist no.5 vorliegt): „Das 'vereinte Europa' wurde von den nationalen Bourgeoisien nie als ein einzelner übernationaler Staat mit einem einzigen Parlament, einer einzigen Regierung und einer einzigen Armee konzipiert, außer in den idealistischen und rhetorischen Phrasen der rechten und linken Randbereiche der Bourgeoisie. In Wirklichkeit waren die imperialistischen Kriege und die Weltkrisen der Überproduktion der wahre Leim und die Stärkung der europäischen Einigung - wirtschaftlicher Art, niemals politisch oder überstaatlich. Die 'Perspektive der Einheit' der 'großen Bourgeoisie' hatte, wie wir bereits ausgeführt haben, das ausschließliche Ziel, 'Vereinbarungen über den freien Warenverkehr' zwischen den Staaten zu treffen, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrisen zu verringern, die die eine oder andere Region angreifen und alle Staaten zusammen. Die Gemeinschaftsorganismen der Europäischen Union (Rat, Kommission und Parlament) stellen unbedeutende Institutionen dar und sind notwendigerweise der nationalen Dynamik der einzelnen Staaten untergeordnet.“ Interessanterweise verbindet auch die bürgerliche Rechte ihre „Deutschland zuerst“-Rhetorik mit der Forderung, die EU auf ihren wirtschaftlichen Kern zu reduzieren (Gauland auf dem AfD-Parteitag).
Die friedensutopischen Ideen der „Vereinigten Staaten von Europa“ haben auch Wurzeln im revisionistischen Flügel der deutschen Sozialdemokratie am Anfang des 20. Jahrhunderts. An ihnen übte schon Rosa Luxemburg 1911 deutliche Kritik, indem sie die historisch-materialistischen Grundlagen in der Entstehung des Staates darlegte und den Internationalismus verteidigte. So waren die bürgerlichen Staaten im 19. Jahrhundert ein Produkt der gewaltsamen staatlichen Vereinigung territorialer kapitalistischer Produktivkräfte. Rosa Luxemburg schrieb: „So plausibel die Idee der Vereinigten Staaten als einer Friedenskonvention auf den ersten Blick vielleicht manchem erscheinen mag, sie hat gleichwohl beim näheren Zusehen mit der Denkweise und dem Standpunkt der Sozialdemokratie nicht das geringste zu tun. Als Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung vertraten wir bis jetzt immer den Standpunkt, dass die modernen Staaten als politische Gebilde nicht künstliche Produkte einer schöpferischen Phantasie (…), sondern historische Produkte der wirtschaftlichen Entwicklung sind.“ Eine historische Entwicklung wohlgemerkt, die alles andere als friedlich war. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass es der deutsche nationalsozialistische Staat war, der noch im 20.Jahrhundert versuchte, gewaltsam einen einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum unter einer einheitlichen kapitalistischen Diktatur zu schaffen. Dieser Versuch endete bekanntermaßen in seiner totalen Niederlage und einer folgenden jahrzehntelangen amerikanischen und russischen Vorherrschaft in Europa, bis der Kollaps des schwächeren russischen Kapitalismus am Ende des letzten Jahrhunderts eine neue Ära multilateraler Verteilungskämpfe einleitete.
Ausgehend vom Kapitalismus als weltweitem System, kritisierte Rosa Luxemburg drei Jahre vor Beginn des ersten imperialistischen Weltkrieges die eurozentristischen Friedensillusionen und bemerkte, „dass wir gerade deshalb seit Jahrzehnten keinen Krieg in Europa haben, weil die internationalen Gegensätze über die engen Schranken des europäischen Kontinents ins unangemessene hinausgewachsen sind, weil europäische Fragen und Interessen jetzt auf dem Weltmeer und nicht in dem europäischen Krähwinkel ausgefochten werden.“ Sie schlussfolgerte: „Und die Losung des europäischen Zusammenschlusses kann objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten.“
Der weltweite Klassenkampf
Die „Europäische Einheit“ kann für den internationalen Kommunismus kein positiver Bezugspunkt sein. Nicht nur, weil sie die ideologische Begleitung eines imperialistischen Bündnisprojektes ist, sondern vor allem, weil sie gegen die Einheit des internationalen Proletariats gerichtet ist. Es war die kapitalistische Entwicklung selbst, die ein weltweites Proletariat (und damit die Realität eines weltweiten Klassenkampfes) geschaffen und die bürgerlich-revolutionäre Phase in der „Dritten Welt“ zum Abschluss gebracht hat. Schon im Kommunistischen Programm 23 vom September 1979 schrieben wir in diesem Zusammenhang: „In zahlreichen Gebieten hat der Kapitalismus seitdem die objektiven Bedingungen des modernen Kapitalismus geschaffen. Und er hat die Proletarier der alten und der neu hinzugekommenen kapitalistischen Länder durch ein gemeinsames Schicksal materiell miteinander verbunden. Dies gilt für das lateinamerikanische und das US-Proletariat; dies gilt in unserem Fall insbesondere für die Proletarier der alten europäischen Metropolen und das junge Proletariat des Nahen Ostens und Nordafrikas.“ Und heute? Es waren proletarische Aufstände, die den „demokratischen arabischen Frühling“ entzündeten und von ihm (zeitweilig) erdrückt wurden, es ist das andauernde imperialistische Massaker, das eineFormierung des arabischen Proletariats verhindern soll und massenhafte Flüchtlingsströme produziert. Es ist die kapitalistische Krisenpolitik, die auch in den entwickelten Staaten die soziale Unzufriedenheit verschärft und zu (leider vorerst nur vereinzelten) originären proletarischenKämpfen führt. Die Zuspitzung der kapitalistischen Krise und der imperialistischen Kriege schafft heute gewaltige Herausforderungen für den multinationalen und internationalen Klassenkampf des Proletariats. Jegliche nationalistische Beschränkung und jeglicher demokratische Klassenkompromiss sind unsere Todfeinde. Unser Bezugspunkt ist kein demokratisches Europa (egal ob mit ganz geschlossenen oder halb geöffneten Grenzen), sondern die internationale proletarische Revolution und die weltweite Diktatur des Proletariats, welche die kapitalistische Ausbeutung beenden und alle Staaten „auf den Misthaufen der Geschichte“ schleudern wird. Das Instrument dafür kann nur die weltweite Internationale Kommunistische Partei sein!
„Die Idee der europäischen Kulturgemeinschaft ist der Gedankenwelt des klassenbewußten Proletariats völlig fremd. Nicht die europäische Solidarität, sondern die internationale Solidarität (…) ist der Grundpfeiler des Sozialismus im Marxschen Sinne. Jede Teilsolidarität aber ist nicht eine Stufe zur Verwirklichung der echten Internationalität, sondern ihr Gegensatz (…) Ebenso wie wir stets den Pangermanismus, den Panslawismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpft haben, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen.“ (Rosa Luxemburg)
Internationale Kommunistische Partei, Mai 2019