Die “Gelbwesten”: ein kurzlebiger Volksaufstand, eine langlebige demokratische Illusion
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“Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.
Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen.”
Manifest der Kommunistischen Partei (1848)
Heute. Die sogenannte “Bewegung der Gelbwesten”, die Mitte November scheinbar aus dem Nichts in Frankreich entstand, im Dezember ihren Höhepunkt erreichte und nach den am 10. Dezember von der Regierung eingeräumten Zugeständnissen stark an Energie und Mobilisierungsfähigkeit einbüßte, stellte eine große Überraschung dar. Die größte “Neuigkeit” sind die Demonstranten, die zu Hunderttausenden landesweit Verkehrswege sowie die Zentren der wichtigsten Städte des Landes lahmlegten und damit die Regierung und ihre “Ordnungskräfte” in Schwierigkeiten brachten.
Halten wir kurz inne, um die sich in den letzten Jahren in der französischen Gesellschaft zugetragenen Ereignisse bis hin zum “plötzlichen” Erscheinen der Gelbwesten nachzuvollziehen: So wird klar, dass diese das Ergebnis einer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung sind. Ihr erster Schritt war die Mobilisierung gegen die Loi Travail, die im August 2016 trotz der Proteste der vorangegangenen Monate in Kraft trat: von den Gewerkschaften organisierte Demonstrationen, Generalstreiks und eine Bewegung, an deren Demonstrationen sich im März 2016 zwischen 390.000 und 1,2 Millionen Arbeiter beteiligten[1]. Was die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen angeht, wich die französische Bourgeoisie um keinen Deut zurück. Nach der Wahl Macrons im Herbst 2017 folgte die Mobilisierung eines Teils der Studierenden gegen die ihnen von der französischen Bourgeoisie auferlegten Zutrittsbeschränkungen an den Hochschulen. Auch dieses Mal blieb die Bourgeoisie unnachgiebig. Zuletzt fand im Frühling 2018 der lange, zermürbende Kampf der Eisenbahner statt (den wir mitverfolgten und über den wir bereits berichteten)[2], der mit einer Niederlage der Arbeiter endete.
Klassenbeteiligung. Statt mit einer Chronik der jüngsten Ereignisse, die man, wenn man will, ohnehin in der bürgerlichen Presse nachlesen kann, möchten wir uns mit ihrer politischen Bedeutung und ihren revolutionären Perspektiven beschäftigen. Das “Volk” ist eine diffuse Masse von Individuen, Ständen und Schichten mit gegensätzlichen Interessen. Um die historischen Gesetze der realen Bewegung zu erfassen, muss man daher erkennen, welche Klassen da mitmischen; das ist die grundlegende Methode des wissenschaftlichen Kommunismus. Viele haben sich gefragt, wer die Gelbwesten eigentlich seien; doch nur wenige haben eine klare Antwort gegeben. Die gründlichsten Analysen setzen sich mit der Wirtschaftslage Frankreichs, sowie mit der sozialen Verortung der Demonstranten innerhalb des kapitalistischen Produktionssystems auseinander. Diesbezüglich äußerte sich die Tageszeitung der Confindustria, d.h. des italienischen Industrieverbandes, wie folgt:
“[In Frankreich] sind 17,1% der Gesamtbevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind weniger als in Deutschland (19%) und Italien (28,9%). Die Familien, die ‘mit großen Schwierigkeiten’ über die Runden kommen, betragen 4,1% der Gesamtbevölkerung. Die Lage ist schlimmer als in Deutschland, wo der Anteil bei 2,1% liegt, aber trotzdem besser als fast überall in der Eurozone. Die Anzahl derer, die ‘mit Schwierigkeiten’ über die Runden kommen, liegt hingegen bei 14%, und somit knapp über dem Durchschnittswert der Eurozone. Andererseits geht sie seit 2013, als sie bei 16% lag, kontinuierlich zurück. Stressanzeichen zeigen sich hingegen, wenn man die Familien betrachtet, die ‘einige Schwierigkeiten’ in Kauf nehmen müssen: In diesem Fall liegt der Anteil in Frankreich bei 39,7% und ist somit, obwohl geringer als in Italien (mit 47,8% an zweitletzter Stelle in der gesamten Europäischen Union), ziemlich hoch, auch wenn man anmerken muss, dass er zurückgeht (in Italien nimmt er hingegen dramatisch zu). In Deutschland liegt der Anteil bei 9,5%. […] in Frankreich stiegen die Preise der Lebensmittel seit 2010 um 10,4%, in der Eurozone hingegen um 13,4%; die Mieten stiegen um 5,6% gegen 12,8%, die Strompreise um 10,8% gegen 15,8% (+23% in Italien). […] Entsprechend stieg das Medianeinkommen in Frankreich von 1999 bis 2017 jährlich um 2,75% – in Deutschland hingegen um 2,36% und in Italien um 3,53%. Die Hälfte der Franzosen verdient weniger als 22.077 Euro im Jahr, während der “mittlere” Wert in Deutschland bei 21.920 Euro und in Italien bei 16.542 Euro liegt.” [3]
Kurios! Manchmal scheint die Bourgeoisie manche Phänomene… materialistischer als wir Materialisten zu sehen und wendet unbeabsichtigt den ökonomischen Determinismus an – ausgerechnet dann, wenn sie das Märchen vom “Scheitern des wissenschaftlichen Kommunismus” erzählt! Doch weiter.
Bereits diese flüchtige Analyse verdeutlicht, dass es sich um Teile des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie auf dem Weg in die Proletarisierung handelt, zu denen sich – selbstverständlich, bedenkt man die andauernde, ernste Wirtschaftskrise – auch Teile des Proletariats gesellen. Ferner ist, wie die Tageszeitung Il Manifesto berichtet, auch das Kleinbürgertum der Vorstädte, der Peripherien und der kleineren ländlichen Siedlungen im Umfeld der Großstädte zahlreich vertreten:
“Nichtsdestotrotz ist Armut eher in den Städten als auf dem Land verbreitet: Das gilt insbesondere für die Kernstädte, wo jeder fünfte Bewohner arm ist. Deren territorialer Gegenpol, die abgelegenen Gemeinden, die zu keinem städtischen Ballungsgebiet gehören, haben ebenfalls einen hohen Anteil an Armen (17%), doch macht ihre Bevölkerung insgesamt nur 4% der Gesamtbevölkerung aus. Es sind jedenfalls nicht die Ärmsten unter den Franzosen (die, wohlgemerkt, zu 66%% in Großstädten leben), die die Gelbwesten übergezogen haben, auch wenn es im Moment noch schwierig ist, diese soziologisch zu erfassen. Aus ihren Aussagen geht hervor, dass es sich um ein Frankreich der geringen Einkommen handelt, um ein Frankreich der unteren Mittelschichten, um ein Frankreich der ärmeren Klassen, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachen, welches hier seine Wut zum Ausdruck bringt. Die Hälfte der Bevölkerung muss mit einem Monatseinkommen von 1.139 bis 2.125 Euro auskommen.” [4]
Seit 2010 nimmt die Anzahl der Mindestlohnbezieher stetig zu, und, während die Durchschnittslöhne im Laufe der Jahre anstiegen, kletterte der Anteil von Arbeitnehmern mit Niedriglohn an der Gesamtanzahl der Beschäftigten von 6 auf 9 Prozent (Eurostat-Daten).
Das ist eine explosive Mischung: Die Lebensstandards der Familien mit geringem Einkommen stagnieren, während die notwendigen Ausgaben steigen ... Die Erhöhung des Benzinpreises, die man den Menschen als “Umweltmaßnahme” verkaufen wollte, war da bloß der Zündfunke.
Doch um die Bewegung zu verstehen, gilt es nicht nur, ihre Klassenzusammensetzung zu erkennen. Man muss auch verstehen, wie die verschiedenen sozialen Komponenten entsprechend ihren Interessen handeln: Schließlich geht es um die sechste Industriemacht der Welt, die eine aktive imperialistische Politik betreibt und über eine starke und zahlreiche Arbeiteraristokratie verfügt. Bevor die Bewegung der Gelbwesten ausbrach, konnte die französische Regierung die Loi Travail durchsetzen, ohne seitens des Proletariats auf ernsthafte Opposition zu stoßen – und zwar auch, weil die Gewerkschaften das Proletariat im Zaum halten: So wird dann auch der Einfluss verständlicher, den die kleinbürgerliche Ideologie auf die Handlungsweise der an der Bewegung beteiligten Proletarier ausübt.
Die Forderungen. Der heterogene und klassenübergreifende Volkscharakter wird offensichtlich, vor allem wenn man die zu drei verschiedenen Zeitpunkten gestellten und in langen Listen aufgezählten Forderungen betrachtet, die sehr ambitiös und in ihrer Konfusion mit patriotischen Gefühlen nationaler Einmütigkeit durchtränkt sind. Den französischen Abgeordneten wurde Mitte November ein erstes “Manifest” mit 42 Forderungen zugeschickt. Im Folgenden zählen wir die “bezeichnendsten” Punkte auf:
- Obdachlosigkeit beseitigen. Ca. 200.000 Menschen leben in Frankreich auf der Straße
- Starke Progression bei der Einkommenssteuer
- Mindestlohn von 1.300 Euro im Monat (Referenzrahmen: SMIC)
- Förderung der kleinen Geschäfte und Einstellung des Baus von großen Einkaufszentren sowie Einführung von kostenlosen Parkplätzen in den Städten
- Die Großen (McDonald's, Amazon, Carrefour) sollen viel, die Kleinen wenig zahlen
- Alle sollen die gleiche Rente haben; Ende der Diskriminierung von Angestellten (RSI)
- Das Rentensystem soll vergesellschaftet werden und solidarisch sein
- Schluss mit der Erhöhung von Treibstoffpreisen
- Keine Renten unter 1.200 Euro im Monat
- Das Gehalt eines jeden gewählten Abgeordneten wird dem Durchschnittslohn entsprechen. Erstattungen für Reisekosten und Transporte sowie das Anrecht auf bezahlten Urlaub werden überwacht.
- Alle Löhne und Renten werden an die Inflation angeglichen
- Schutz der französischen Industrie, Verbot von Verlagerungen, Schutz des spezifischen Know-hows
- Schluss mit der Arbeitnehmerentsendung. Wer auf französischem Territorium arbeitet, muss bezüglich Besteuerung, Arbeitsvertrag und Vorsorge denselben Regeln unterliegen, die für die französischen Staatsbürger gelten, um unfaire Konkurrenz gegenüber den nationalen Arbeitnehmern zu unterbinden.
- Kampf zur Sicherung der Beschäftigung gegen befristete Arbeitsverträge (CDD) und zugunsten unbefristeter Arbeitsverträge
- Umsetzung einer tatsächlichen Integrationspolitik: In Frankreich leben soll heißen, Franzose zu werden. Sprach-, Geschichts- und Bürgerkundekurse mit Abschlusszeugnis
- Mehr Mittel für Justiz, Sicherheitskräfte und Armee; Bezahlung von Überstunden
Diesen Vorschlägen folgte am 6. Dezember ein “Vorschläge für einen Ausweg aus der Krise” genanntes, vom selben Volksgeist inspiriertes 25-Punkte-Manifest. Die Forderungen: Erhöhung der Mindestlöhne, fünf Millionen neue Sozialwohnungen, Austritt aus der Europäischen Union und dem Euro, Offensive gegen große Banken, Lobbys und Pharmakonzerne, sofortiger NATO-Austritt, Schluss mit den Migrationsströmen, Schluss mit “Plünderung und den politischen und militärischen Einmischungen” in Afrika.
Die Demonstranten teilten diese Vorschläge nicht gänzlich, schon gar nicht diejenigen unter ihnen, die die Bewegung passiv unterstützen, ohne an den Zusammenstößen mit der Polizei und an den Straßenblockaden teilzunehmen. Die Teilnahme an der groß angelegten online Debatte mitsamt ihrer Unterschriftensammlung lag weit unter der Anzahl der Demonstranten, die tatsächlich auf die Straße gingen. Eigentlich lag die Stärke der Bewegung in der Fähigkeit, ohne ein klar formuliertes gemeinsames Programm die Straßen lahmzulegen und die Sicherheitskräfte in Schwierigkeiten zu bringen. Daher genügten die Zugeständnisse des 10. Dezembers, um die aktive Beteiligung sehr zu beeinträchtigen. Durch große, organisierte Polizeieinsätze und Konzessionen an Rentner und Personen mit geringem Einkommen errang die Regierung ihren Sieg: Der Mindestlohn steigt von 1.184 Euro netto im Monat auf fast 1.300, während die Besteuerung der Renten sinkt. Ferner kündigte Macron die Steuerbefreiung der Überstunden an: Ein sehr kluger Schachzug, der die Ketten der Lohnarbeit festigt, indem er den Sklaven eine kurzfristige Befriedigung gewährt. Zuletzt hat die Regierung die Möglichkeit angedeutet, die Rückkehr zur Vermögenssteuer zu erwägen.
In Folge der Zugeständnisse und der starken Abnahme der Demonstranten, ging die Bewegung dazu über, “direkte Demokratie ” und “Macht den Bürgern durch Volksabstimmungen ” zu fordern.
Ferner wird die Bewegung als solche von allen Umfragen bestätigt, d.h. die Gelbwesten haben 60% bis 70% der Bevölkerung hinter sich, ohne dass sich dies bei den Demonstrationen entsprechend widerspiegelt. Die Gelbwesten spekulieren mit der Unzufriedenheit und der wirtschaftlichen und sozialen Notlage der Arbeitnehmer, wobei aber nationale Interessen immer Priorität behalten – nationale Interessen wären die gemeinsamen Interessen der "guten Unternehmer" und der… “Arbeiter, die ihre Pflicht tun”.
Mit einem Wort: eine ruhige Volksmehrheit.
Kampfmethoden. Die Art der Mobilisierung und die Inanspruchnahme der Informatik zeigen eindeutig, dass Kommunikationsmittel kein bloß dem Kapital nützliches Instrument sind: Im Gegenteil, sie können den Aufbau einer organisierten Opposition unterstützen. Ferner konnte der Notwendigkeit, die Grenzen der bloß individuellen Dimension, die jene sozialen Klassen bis heute gefangen hält, zu überschreiten, dank der Kommunikationsmittel leichter und schneller als früher Körper und Stimme verliehen werden. Doch waren es nicht die Kommunikationsmittel, die das Phänomen bestimmten: Die Gelbwesten sind das Produkt der Krise und der materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen, nicht des Netzes! Kommunikationsnetz und Informatik waren ein bloßes Mittel: Die von ihnen eröffneten Möglichkeiten werden so gut wie nicht genutzt, und zwar aufgrund der demokratischen, volksmäßigen und kleinbürgerlichen Voreingenommenheit gegen die Organisation – eine Voreingenommenheit die vom Misstrauen gegenüber der bürgerlichen Politik und der jahrzehntelangen antiproletarischen Tätigkeit der offiziellen Gewerkschaften verursacht wird und die Bewegung dazu bringt, die Notwendigkeit einer beständigen und strukturierten Partei bzw. Organisation zu negieren (sogar wenn es nur darum geht, den wirtschaftlichen Forderungen eine Kontinuität zu geben)... um aber dann am Ende doch wieder der Illusion des Parlaments und der Volksabstimmungen zu verfallen und den zigsten Versuch eines absurden Wahlbündnisses zu unternehmen! Für uns hingegen muss die Organisation sowohl Ziel als auch wichtigstes Ergebnis der Kämpfe sein: kurzfristig, um die wirtschaftlichen Forderungen und jene zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu unterstützen; langfristig, um die Festigung und Orientierung einer starken sozialen Opposition auf politischer Ebene zu ermöglichen.
Die Volkscharakter der Bewegung offenbarte sich auch in der Abwesenheit proletarischer Kampfmethoden, d.h. soweit möglich unabhängige und in den Wohn- und Arbeitsorten verwurzelte Praktiken wie tendenziell harte Streiks, entschlossene, anhaltende Streikposten, Blockaden des Warenein- und -ausgangs – mit einem Wort weit mehr als nur Demonstrationen und Ausschreitungen am Samstagnachmittag. Die Gelbwesten begnügten sich, durch samstägige Straßenblockaden zu beweisen, dass man in der französischen "Provinz" ohne Auto nicht leben kann: Andererseits heißt das aber, dass der Verkehr nur an ohnehin schon relativ ruhigen Tagen lahmgelegt wurde…
Ein weiterer Punkt, den man reflektieren muss, ist die Rolle der Gewalt. Ohne Organisation zerstreut sich leider auch die Gewalt und bringt keine anhaltenden Errungenschaften mit sich. Dennoch kann schon allein die Tatsache, dass die Bewegung im Stande ist, die „Ordnungskräfte” in Schwierigkeiten zu bringen, dazu beitragen, den Mythos der unbesiegbaren Macht des bürgerlichen Staates ins Wanken zu bringen: Zeigen, dass eine Reaktion auf die Gewalt der Bullen möglich ist, ist schon an sich ein wichtiges Ergebnis! In der frustrierenden Verherrlichung der unantastbaren Macht des Kapitals entstehen Risse: In Zukunft wird dies zur Hebung der Moral des Proletariats beitragen. Auf der anderen Seite ist das Phänomen der kleinbürgerlichen Reaktion auf die Proletarisierung nicht auf Frankreich begrenzt: Das französische Beispiel könnte denjenigen, die unter ähnlichen materiellen Bedingungen leiden, Mut verleihen. Doch nochmals: Ohne Organisation ist auch die Bewegung der Gelbwesten dazu bestimmt, spurlos zu verschwinden. Das hat sich auch im negativen Sinne gezeigt: Der Staat schaffte es nämlich, die Revolte einzudämmen und zu absorbieren, weil er besser organisiert ist und sich die als herrschende Klasse gemachten historischen Erfahrungen zu Nutzen machen kann.
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Heute befinden wir uns also an folgendem Punkt der Geschichte: Das Proletariat wird vom Kleinbürgertum beeinflusst und auf seinen Schultern lastet ein ganzes Jahrhundert der Konterrevolution wie ein Felsbrocken. So schrieb Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte:
“Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. So übersetz der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.“
Wir sind heute weit von einer Epoche der revolutionären Krise entfernt: Daher ist die Last der Tradition umso schwerer zu ertragen. Dennoch sagen wir Kommunisten stets, dass man keine reine Wiederaufnahme des Klassenkampfes erwarten kann: Im Gegenteil, jede Wiederaufnahme wird nicht nur gewaltsam und eruptiv sein, sondern auch eine unvermeidbare Durchmischung der Positionen aufweisen, insbesondere weil mit “halben Ideologien” ausgestattete Klassensegmente auf dem Weg in die Proletarisierung an der “Bewegung” teilnehmen. Als Partei können wir aber ausbrechenden Bewegungen, wie z.B. den Gelbwesten, nicht auf völlig undifferenzierte Art und Weise einen politischen Stempel von „links“, proletarisch oder gar klassenkämpferisch geben. Ganz im Gegenteil, müssen wir auf die unabhängige Rolle der Arbeiterbewegung pochen und dafür arbeiten, dass sie stärker wird und sich im Laufe der unvermeidlichen Kämpfe in der Gegenwart und der Zukunft behaupten kann. Es wird daher sehr interessant sein, Parteien und Bewegungen, auch klitzekleine, dabei zu beobachten, wie sie sich von dieser volksmäßigen und klassenübergreifenden Revolte mitreißen und begeistern lassen werden.
Internationale Kommunistische Partei
Veranstaltung zum Thema:
Die Bewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich - Volksaufstand und demokratische Illusionen
Veranstaltung: Sonntag, 03. Februar 2019 um 15 Uhr in der K9, Kinzigstraße 9, Berlin-Friedrichshain