Unia: der Aufstand der Basis

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Der Winter kommt früh in jenem Herbst 2016; schon im Oktober gibt es Bodenfrost und Schnee bis in die Täler. Da machen sich, an einem Donnerstag, 400 Arbeiter*innen und Angestellte auf nach Genf.

Aus der ganzen Schweiz reisen die Delegierten der Unia an, um sich zum alle vier Jahre stattfindenden Kongress der grossen Gewerkschaft zu versammeln. Vor ihnen liegt ein Marathon aus Akten und Reden: Drei Tage werden sie im fensterlosen Saal eines Kongresszentrums sitzen, werden Referate hören und ihre gelben Stimmkarten in die Höhe recken, werden auf den Fluren beim Kaffeemiteinander lachen und sich abends beim Apéro über die viel zu vornehmen Häppchen wundern. Als wären sie Banker. Dabei sind sie doch Arbeiter*innen, das Herz der Unia, «dammi noma». Vorn, über der Bühne, prangt das Motto des Kongresses: «Solidarisch in der Gesellschaft — stark in den Betrieben».

Die Stimmung ist prächtig in diesem Jahr. Seit langem haben sie, die Mitglieder, eine «Unia von unten» gefordert, doch jedes Mal versandeten die Pläne. Dieses Mal kommen sie vorbereitet: Rund 150 Anträge liegen vor, doppelt so viele wie sonst.

Eine grosse Zahl Anträge zielt in die gleiche Richtung: mehr Basis, weniger Apparat. Mehr Transparenz, weniger Hinterzimmer. Mehr Debatten, weniger Durchsagen. Kurz: mehr demokratisch verfasste Gewerkschaft, weniger auf Kontrolle getrimmter Konzern. Und Schluss mit dem sich immer schneller drehenden Mitgliederkarussell, sagt einer der damaligen Antragsteller.

Dazu muss man wissen: Um die stetig zunehmenden Austritte zu kompensieren, müssen die Angestellten immer mehr Neue heranschaffen. Werbequoten von 1,5 Mitgliedern pro Arbeitstag — und mehr — werden zur Norm. Die Unia hat ein sehr strenges Personalreglement: kündigen ist nicht leicht. Es sei denn, man wirbt nicht genug Mitglieder.

lm Jahr des Kongresses zeichnet sich deshalb zum ersten Mal ein Problem ab: Während die Eintrittsraten stabil bleiben, treten immer mehr Mitglieder aus. 2015 kommen 24’315 neu in die Unia, 23’193 verlassen sie wieder. Macht eine Austrittsrate von knapp 12 Prozent und netto einen Gewinn von 1’122 Mitgliedern. Das belegen Dokumente aus dem Intranet der Unia, die der Republik vorliegen. Ein rasender Stillstand hat die Gewerkschaft ergriffen, eine Mitglieder-Bulimie: Egal, wie viel man vom hineinschaufelt, der Patient nimmt nicht zu.

Rund zwei Drittel der Austritte sind normal und lassen sich kaum verhindern, schätzen Insider. Jemand geht, weil er den Job wechselt, die Stadt oder die Gewerkschaft. Oder weil das Geld knapp ist. Doch ein Drittel der Austritte wäre vermeidbar, glauben sie: Diese Leute gehen, weil sie unzufrieden sind, man ihnen zu viel versprochen oder ihnen zu wenig zugehört hat und sie von der Unia eigentlich nur Rechnungen kriegen.

Die Ehrenamtlichen fordern seit langem, das Mitgliederkarussell anzuhalten. Durch mehr Betreuung, durch mehr «Unia von unten», durch ein Netz von «Vertrauensleuten». Das sind, im Jargon der Gewerkschaft, Schlüsselfiguren in Betrieben, die das Vertrauen ihrer Kolleginnen geniessen. Die sich trauen, ihrem Vorarbeiter zu widersprechen oder einen Streik zu organisieren. In einem Wort: die Keimzellen des Klassenkampfs. Sie müsse man gewinnen. Und nicht irgendwelchen Unterschriften auf Klemmbrettern hinterherjagen.

Die Basis setzt sich durch. Unzählige Abstimmungsniederlagen muss die Geschäftsleitung an jenem Kongress einstecken. Die Delegierten unterstützen die Forderungen aus ihren Reihen - und nicht die vernässten Gegenvorschläge der Zentrale. Und dann kommt es, am zweiten Tag des Kongresses, zum Showdown.

Zur Diskussion steht der symbolträchtigste Antrag, er heisst «Unia Forte konkret» und wird eingebracht vom Berner Oberland, unterstützt von Genf und Tessin, zwei weiteren aufmüpfigen Regionen. Sie haben ihn gemeinsam vorbereitet, auf mehreren Tagungen, und er ist präzis: Die Unia möge vier Jahre lang je fünf Millionen Franken investieren in ihr Netz von Vertrauensleuten. Ein eigenes Gremium soll gebildet werden, das über den Einsatz des Geldes wacht, neue Projekte genehmigt und jedes Jahr detailliert Bericht erstattet.

So sehr misstraut man inzwischen der Geschäftsleitung. Die wehrt sich. Mit gleich drei Rednern. Das ist unüblich. Weil sie ja ohnehin mit einer Stimme spricht.

«Ist es sinnvoll, hier im Kongress schon zu sagen, wie man das in der Zentrale organisieren will?», fragt Nico Lutz vom Rednerpult in den Saal. Finanzchef Martin Tanner mahnt die Delegierten: Der Antrag werde einen «Verlust» von zwanzig Millionen Franken verursachen, das sei «schlicht nicht verantwortungsvoll».

Ja, «wir müssen mehr in Unia Forte investieren, da sind wir uns alle einig», räumt Vania Alleva ein. Aber, erklärt die Präsidentin, Gewerkschaftsarbeit dürfe man nicht «aus dem Affekt heraus»Only local images are allowed.
betreiben. Man könne nicht «in zwei Stunden eben mal fünf Millionen verbraten». Und gibt die Richtung vor: «Bitte mit einer gewissen Seriosität abstimmen hier.» Uns liegt kein Protokoll des Kongresses vor, nur ein verwackeltes Handyvideo, von den Zuschauerrängen aufgenommen. Es belegt den Wortlaut.

Nun geht Hansueli Balmer zum Mikrofon, ehrenamtlicher Vorstand der Region Berner Oberland, gelernter Schreiner, ein Unia-Urgestein mit Halbglatze und grauem Bart. «Du sprichst von Seriosität», wendet er sich direkt an die Präsidentin. «Ist es seriös, wenn Investitionen in die Basis hier als Verlust bezeichnet werden? Dann sind wir ein Verlust? Das kann doch nicht sein! Wir sind die Trägerschaft der Gewerkschaft, der Unia Forte!» Und während er zurück auf seinen Platz geht, applaudieren die Delegierten. Nun wird per Handzeichen abgestimmt — und eine Mehrheit hebt die gelben Stimmkarten.

Zufrieden schauen sich die Delegierten an den Tischen an — da tönt es aus den Lautsprechern: Das Ergebnis sei nicht klar genug, die Abstimmung müsse elektronisch wiederholt werden. Ein Raunen geht durch den Saal. Lacher, sarkastische Zwischenrufe. Also nimmt jede und jeder die kleine Fernbedienung mit den vier Knöpfen zur Hand, um elektronisch abzustimmen. Das Ergebnis: Zwei Drittel der Delegierten stimmen dem Antrag zu.

Doch wieder hat man sich zu früh gefreut. Die nächste Hürde der Geschäftsleitung: es gibt einen zweiten, ähnlichen Antrag, auch er fordert mehr Geld für die Stärkung der Basis. Flugs werden diese beiden Anträge einander gegenübergestellt. Entweder/Oder. Nochmals abstimmen, bitte.

Wieder Zwischenrufe, Raunen, Unruhe im Saal — da hören alle über die grossen Lautsprecher, wie eine Frauenstimme in ihr vermeintlich abgeschaltetes Mikrofon sagt: «Wir machen es trotzdem.» Und viele könnten schwören, dass es die Stimme von Vania Alleva war.

Ein letztes Mal wird abgestimmt, und nun ist es amtlich: Ja, die Basis besteht darauf, dieses Geld genau so zu investieren. «Unia Forte konkret» ist angenommen.

Noch eine Ohrfeige bekommen Alleva und Co. bei der zentralen «Organisationsstrategie 2020». Acht Punkte umfasst der Vierjahresplan, nun diktieren die Delegierten einen neunten Punkt hinein, er heisst «Konkretisierung der Ziele». Um «zu vermeiden, dass sie lediglich Absichtserklärungen bleiben». Jedes Jahr sollen die Chefs den Delegierten der kleineren Jahreskonferenz im Detail berichten, welche Beschlüsse sie wie umgesetzt haben. Die Geschäftsleitung erhält ein Hausaufgabenbüchlein.

Wären Journalistinnen da gewesen — dann hätten sie jetzt von einer Vertrauenskrise berichtet. Aber die Unia ist eine Gewerkschaft, keine Partei. Kein Wort dringt nach draussen.

Bist heute. Weder Protokolle, noch Diskussionsverläufe, oder Beschlüsse vom Kongress 2016 sind auffindbar. Weder auf der Unia-Website noch im Intranet der Unia. Nur ein Dokument ist vorhanden: die Organisationsstrategie 2020.

Was wurde vom Beschluss «Unia Forte konkret» umgesetzt? Wie viel wurde investiert? Was ist mit dem Gremium, das über den Beschluss wachen sollte?

Sicher ist: für die drei aufmüpfigen Regionen aber wird es nach dem Kongress ungemütlich. Für das Berner Oberland von Udo Michel spricht die Zentrale 2017 noch Projektgelder in Höhe von 34000 Franken. Zum Vergleich: Die drei Jahre davor waren es im Schnitt noch knapp 300 000 Franken. Eisig wird der Ton, wenn man mit der Geschäftsleitung reden will.

Hansueli Balmer, der ehrenamtliche Vorsitzende aus dem Berner Oberland, wird zum Einzelgespräch in die Zentrale zitiert. Die Präsidenten der Regionen Tessin und Genf werden öffentlich von Alleva abgekanzelt, weil sie es gewagt haben, eine eigene Position zur AHV zu verbreiten. Noch auf dem Kongress habe man Vania Alleva grummeln gehört, der Beschluss zu «Unia Forte» sei unverantwortlich und falsch.

Dabei stammt die Idee einer basisorientierten Gewerkschaft ursprünglich gar nicht von der Basis —sie wurde der Unia schon bei der Gründung in die Wiege gelegt. So sagte kein geringerer als Vasco Pedrina selbst bei seiner Rücktrittsrede aus den SGB-Gremien im Dezember 2012: «Auf dem Weg „Von der Gewerkschaft der Profis zur Gewerkschaft der Vertrauensleute“ auf dem wir uns befinden, ist es klar geworden, dass eine solche Aktivierung unserer Mitglieder nur gelingen kann, wenn ein tiefgreifender kultureller Wandel in der gesamten Organisation stattfindet. Dazu gehört u.a., dass der paternalistische (und oft auch manipulative) Stil des gewerkschaftlichen Apparates gegenüber der eigenen Basis Platz machen muss für eine Praxis, in welcher die Gewerkschaftssekretär*innen die Rolle der Coach von Vertrauensleuten wahrnehmen, um sie zu befähigen, die gewerkschaftlichen Aktivitäten und Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen. Gerade weil ein solcher Prozess Kontinuität, Beharrlichkeit und langen Atem bedingt, ist es entscheidend, dass die Gewerkschaftsführungen voll dahinter stehen und ihn sogar selber vorantreiben (es soll Chefsache werden!).»

lrgendetwas scheint da schief gelaufen zu sein beim Generationenwechsel. Nur, was?


Dieser Artikel ist Teil einer Artikelreihe des Republik-Magazins, welche jedoch nie erschien. Wir haben uns dazu entschlossen, die Artikel zu prüfen und fortlaufend zu veröffentlichen. Der Republik wurde die Chance gegeben, die Artikel selbst zu überarbeiten und zu veröffentlichen — dies lehnten sie aber ab. Die Namen der Autor*innen wurden sicherheitshalber entfernt. Der Artikel "Unia: Aufstand der Basis" war ursprünglich im "Apparat Teil zwei" der Artikelreihe integriert - aufgrund des unterschiedlichen Themenfokuses haben wir entschieden, ihn separat zu veröffentlichen.

 

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